Fehlende Vorkenntnisse, SchulplatzmangelDrastischer Anstieg bei Wiederholern unter Kölner Erstklässlern

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Grundschulklasse

Viele Erstklässler in Köln bleiben ein Jahr länger in der Eingangsklasse.

An einigen Kölner Grundschulen wird ein Drittel der Kinder die erste Klasse wiederholen. Tendenz steigend. 

Für die Kölner Erstklässler gibt es am Ende dieser Woche zwar noch kein Halbjahreszeugnis. Aber schon jetzt ist nach einem halben Jahr Schule klar, dass viele das Klassenziel nicht erreichen werden. Nach derzeitigem Stand werden 850 Schülerinnen und Schüler die erste Klasse wiederholen müssen. Das ist die Zahl der Kinder, die die Kölner Grundschulleitungen dem Schulentwicklungsamt für ihre Planung gemeldet hat. Das sind ein Drittel mehr als im Vorjahr und bedeutet einen Rekordwert von 8,5 Prozent aller Erstklässler.

Dabei kann man mit Blick auf die Zahlen von einem Trend sprechen, der sich zunehmend verschärft: Bereits im Vorjahr war mit einer Steigerung von einem Drittel ein neuer Höchststand erreicht worden. Das entspricht fast einer Verdopplung innerhalb von zwei Jahren. Dabei ist sicher davon auszugehen, dass es sich dabei um kein Kölner Phänomen handelt. Allein hier fällt der Scheinwerfer besonders auf das Problem, da in der Stadt akuter Grundschulplatzmangel herrscht und die Wiederholerzahlen daher besonders früh gemeldet werden.

In vielen Kölner Grundschulen mehr als 20 Prozent Wiederholer

Dabei zeigt ein genauerer Blick auf die einzelnen Schulen und Bezirke, dass zwar durchweg in allen Stadtbezirken ein Anstieg zu beobachten ist, die Dramatik aber in Schulen mit hohem Sozialindex deutlich höher ist: In über einem Dutzend Kölner Grundschulen sind mindestens 20 der Erstklässler als Wiederholer gemeldet. Darunter sind einige Grundschulen, an denen es sogar ein Drittel ist. Spitzenreiter ist eine Grundschule im Stadtbezirk Kalk, wo in diesem Jahr fast 40 Prozent aller Erstklässler zurückgestellt werden sollen.

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Warum die Zahlen so in die Höhe schnellen, wird schnell deutlich, wenn man mit Grundschulleitungen spricht, die von dem Phänomen besonders betroffen sind: Die Zahl der Kinder, die die Fähigkeiten nicht mitbringen, um überhaupt Lernen zu können, steigt bei ihnen rasant. Früher hieß das Schulreife, heute Vorläuferfähigkeiten. „Viele Kinder haben nur ganz geringe Sprachkenntnisse. Wenn ich denen mit der Anlauttabelle die Buchstaben A wie Apfel und B wie Baum vermitteln will, funktioniert das nicht. Sie wissen nämlich nicht, was ein Apfel ist, weil sie das Wort nicht kennen“, bringt Dirk Külker, Schulleiter der Grundschulen Merianstraße in Chorweiler und Soldiner Straße in Lindweiler die Probleme auf den Punkt. Fehlende Deutschkenntnisse sieht auch Ulrich Becker, Schulleiter der „Grundschule IM Süden“ in Meschenich, als eine Hauptursache. „Ein großer Teil der Kinder, die bei uns wiederholen werden, hat gar keine Kita besucht.“

Manche können keine Schere gerade führen, viele nehmen hier das erste Mal in ihrem Leben ein Buch in die Hand.
Christiane Hartmann, Leiterin der James-Krüss-Grundschule

Hinzu kommen bei sehr vielen Kindern motorische Defizite. Der Großteil seiner Erstklässler könne sich die Schuhe nicht binden, viele haben Probleme damit, sich alleine die Jacke an- und auszuziehen, oder auch einen Stift in der Hand zu führen, sagt Külker. „Manche können keine Schere gerade führen, viele nehmen hier das erste Mal in ihrem Leben ein Buch in die Hand“, ergänzt Christiane Hartmann, Schulleiterin der James-Krüss-Grundschule in Ostheim. Viele seien bei der Einschulung in ihrer Entwicklung zwei Jahre zurück.

Hinzu kommt nach Aussage mehrerer Schulleitungen eine massiv abnehmende Konzentrationsfähigkeit der Kinder: Sehr viele Kinder könnten sich nur wenige Minuten fokussiert an etwas arbeiten. Lernvoraussetzungen wie Zuhören oder Ausredenlassen, seien oft nicht vorhanden und müssten intensiv eingeübt werden. Ein großes Problem und eine wichtige Mitursache für die wachsenden Konzentrationsprobleme sieht Karsten Stoltzenburg, Schulleiter der Grundschule Lohmarer Straße, auch in der frühen Nutzung von Smartphones und Tablets: „Bei unseren Vorstellabenden in den Kitas stellen wir fest, dass inzwischen bereits viele Kita-Kinder eigene Smartphones zum Spielen haben“, sagt Stoltzenburg. Bei vielen Eltern fehle schlicht das Problembewusstsein. Die langen Medienzeiten mit passivem Spielen und rein optischen Reizen gehen ab vom Toben, Fußballspielen oder Malen. Auf die Frage im Anmeldegespräch, was sie in ihrer Freizeit gerne machen, komme dann die Antwort „I-Pad“, bestätigt auch Külker.

So wie die frühkindliche Bildung derzeit aufgestellt ist, ist die Wiederholung des ersten Schuljahres dann die einzige Chance, diese Defizite vielleicht noch aufzuholen. „Wenn ein Kind am Ende des ersten Schuljahres gerade einmal bis zehn zählen kann, die Zahlzerlegung aber noch nicht begreift, wird es unmöglich im darauffolgenden Herbst in der Lage sein, im zweiten Schuljahr den Zahlenraum bis 100 zu erobern“, macht Hartmann anschaulich. Gleiches gelte für das Lesen, wenn nur die Hälfte der Buchstaben beherrscht werde. „Das Fundament muss solide sein, bevor das Haus darauf aufgebaut werden kann.“ Erst seit 2020 gibt es im NRW-Schulgesetz die Möglichkeit, das erste Schuljahr zu wiederholen und damit die Schuleingangsphase auf drei Jahre auszudehnen. Die Schulleitungen sind froh über diese Option, die davor sehr hart für Einzelfälle erkämpft werden musste.

Für die immer größere Zahl von Kindern, die mit Entwicklungsverzögerungen eingeschult werden, ist das aber allenfalls die zweitbeste Lösung. Für sinnvoller und auch notwendig halten die befragten Kölner Schulleitungen unisono ein verpflichtendes Vorschuljahr in der Kita. „Und eine bessere vorschulische Diagnostik“, ergänzt Schulleiter Becker.

Es ist jetzt die Verantwortung des Landes, da wo die Probleme am größten sind, etwas zu investieren.
Jochen Ott, SPD-Fraktionsvorsitzender im Landtag

Genau ein solches verpflichtendes Vorschuljahr in der Kita fordert die SPD im Landtag und nennt es ein „Chancenjahr“. „Die Dringlichkeit liegt auf der Hand. Es ist jetzt die Verantwortung des Landes, da, wo die Probleme am größten sind, etwas zu investieren“, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Jochen Ott. Ein solches verschultes Jahr an der Kita könne dann an zwei bis drei Tagen in der Woche spezielle Angebote für die Kinder machen, die das brauchen – wie etwa gezielte Sprachförderung, Konzentrationsförderung oder Schulung der Feinmotorik. Außerdem müssten alle Kinder mit 4,5 Jahren in der Kita auf grundlegende Fähigkeiten getestet werden, um dann ein entsprechendes Förderprogramm anbieten zu können, fordert Ott.

Im NRW-Schulministerium hat man den grundsätzlichen Handlungsbedarf wohl erkannt. Schulministerin Dorothee Feller (CDU) erarbeitet derzeit ein standardisiertes Testverfahren für das Anmeldeverfahren der Grundschulen, mit dem die Sprachentwicklung bei der Schulanmeldung erfasst werden soll. Daran anschließend müsse dann eine gezielte Sprachförderung folgen, hieß es aus dem Ministerium.

Schulministerin Feller will Lesen und Rechnen stärken

Das sei viel zu spät, da die Kinder dann schon 5,5 Jahre alt sind, kritisierte Ott. Außerdem setzt Feller seit diesem Schuljahr darauf, die elementaren Fähigkeiten Rechnen und Lesen – etwa durch Erweiterung der Lesezeiten – zeitlich und didaktisch zu verstärken. Aktuell wurden umfangreiche analoge und digitale Unterstützungsmaterialien aufgelegt, wie die Lesekompetenz und die Rechenfähigkeit gerade am Schulanfang gefördert werden kann. Zu der Forderung nach einem Vorschuljahr, wie es etwa auch in Hamburg seit langem gibt, äußerte sich das Ministerium nicht.

Das kann bildungspolitisch kein hinnehmbarer Zustand sein, dass Kinder schon die erste Klasse wiederholen.
Robert Voigtsberger, Schuldezernent

Der Kölner Schuldezernent Robert Voigtsberger hatte sich über die massiv steigenden Zahlen höchst alarmiert gezeigt und sich an das NRW-Schulministerium gewandt. Zumal die Stadt angesichts der steigenden Wiederholerzahlen und fehlender neuer Grundschulen ein riesiges Problem hat, überhaupt allen Kindern einen Grundschulplatz zur Verfügung zu stellen. „Das kann bildungspolitisch kein hinnehmbarer Zustand sein, dass Kinder schon die erste Klasse wiederholen“, so Voigtsberger.

Voigtsberger will alle Beteiligten an einen Tisch holen und Maßnahmen diskutieren. Auch die Abschaffung der Verwaltungsvorschrift, dass das erste Schuljahr wiederholt werden dürfe, müsse diskutiert werden. Genau vor dieser Debatte hat man in den Schulen Sorge. Die Tatsache, dass es nicht genug Schulplätze gebe, dürfe in keinem Fall auf Kosten dieser Kinder gehen, die ohnehin schon benachteiligt seien, betonte Schulleiterin Hartmann.

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