Kölner Psychologe über Deutschtürken„Viele haben Wut auf ihre Eltern“

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Arif Ünal

  • Sie leiden an Spiel- oder Alkoholsucht, Angststörungen und Psychosen: Nur wenige kennen die Probleme von Kölner Migranten so gut wie der Psychotherapeut Arif Ünal.
  • Er weiß, warum viele Deutschtürken oder Deutschrussen bis in die dritte Generation hinein unter psychischen Problemen leiden.
  • Ein Gespräch über Kofferkinder, unerfüllte Sehnsüchte und Eltern, die sich einen BMW vom Mund absparen.
  • Aus unserem Archiv.

Köln – Warum gibt es in Köln ein eigenes Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten?

Bevor wir das Gesundheitszentrum gegründet haben, haben wir in einer Bedarfsanalyse ermittelt, dass es dieses spezielle Angebot dringend braucht, weil herkömmliche Angebote diese Gruppe nicht erreichen: Der Zulauf gibt uns Recht.

Wir haben mit zwei Stellen angefangen und sind heute schon zu neunt. Vor allem der psychotherapeutische Bedarf unter den Kölner Migranten steigt immens. Die Nachfrage ist so hoch, dass ich gar keine Pausen mehr machen kann. Wir sind mehr als ausgelastet und jeden Tag kommen fünf bis zehn neue Anfragen.

Wer kommt denn zu Ihnen?

Bei mir sitzen Erwachsene aller Altersstufen: Meine jüngste Klientin ist 18 Jahre alt, die älteste 87 Jahre. Wobei ich sagen muss, dass wir uns auf türkisch und russisch sprechende Kölner spezialisiert haben. Die Diagnosen reichen von Depressionen über Angststörungen bis zu Psychosen.

Aus unserem Archiv

Das Gespräch ist erstmalig im September 2018 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen.

Mit welchen Problemen kommen die Migranten der ersten Generation?

Die erste Generation, die in den 60er Jahren als Gastarbeiter kam und inzwischen 70 bis über 80 Jahren alt ist, ist psychisch im Vergleich zu ihren Kindern und Enkeln die stabilste Generation. Sie hatte ursprünglich nur ein Ziel: Geld zu verdienen und dann zurückzukehren in die Türkei. Das war ja auch politisch von beiden Seiten so gewollt. Den Leuten wurde von den türkischen Politikern eingeschärft: Benehmt euch und mischt euch nicht ein in die Angelegenheiten des Gastgebers, ihr seid Gäste in der Bundesrepublik.

Im Glauben an dieses Provisorium haben die Migranten ihre Kinder bei den Großeltern zurückgelassen und haben hier teilweise 15 Jahre auf den Koffern gelebt. Sie haben physisch hier in Deutschland gelebt, waren aber psychisch in der Türkei. So ein Leben, bei dem man nie wirklich ankommt, hinterlässt aber natürlich psychisch Spuren.

Wie zeigt sich das heute?

Abgesehen von dem schmerzhaften Zustand der Trennung von den Kindern entwickeln viele von ihnen im Alter Depressionen: Sie sind ja mit einem Arbeitsvertrag hergekommen und haben vom ersten Tag an nur gearbeitet. So was wie Integrations- oder Sprachkurse gab es nicht. So haben sie viel Diskriminierung erlebt, konnten aber nie ihre Stimme erheben.

Also haben sie alles runtergeschluckt und peinlich darauf geachtet, alle Regeln einzuhalten. Daraus entstehen Zwangsstörungen. Ich kenne Leute aus der Generation, die im Leben noch nie eine rote Ampel überquert haben. Gleichzeitig ist der Wunsch, irgendwann zurückzukehren, noch vorhanden in Form einer idealisierten Heimatsehnsucht. Da inzwischen Kinder und Enkel hier leben, bleibt es bei dieser unerfüllten Sehnsucht.

Weil sie die Trennung irgendwann nicht mehr ertragen konnten, haben die allermeisten irgendwann ihre Kinder nachgeholt. Wie geht es diesen türkischen Migranten der zweiten Generation heute?

Diese heute 40- bis 50-Jährigen Kinder der Gastarbeiter – die so genannten Kofferkinder – hatten das viel schwerere Los: Sie haben sehr unter der Trennung gelitten und ihre Eltern nur einmal im Jahr zwei bis drei Wochen im Türkei-Urlaub gesehen – quasi als Gäste, die Geschenke mitbrachten. Eine normale Eltern-Kind-Beziehung konnten sie nie erleben.

Zur Person

Arif Ünal leitet seit 1995 das Kölner Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten. Dort macht der Psychotherapeut und Sozialarbeiter viele Erfahrungen mit den Sorgen und Nöten der Kölner mit ausländischen Wurzeln.

Als sie dann abrupt hierher geholt wurden, war das auch traumatisch: Beide Eltern mussten arbeiten und konnten sich nicht kümmern. Die völlig unvorbereiteten Kinder hatten Probleme in der deutschen Schule und scheiterten. Diese Kinder mit den unterbrochenen Biografien haben oft weder in der Türkei noch in Deutschland irgendetwas erreichen können.

Wie wirkt sich das heute aus?

Viele beherrschen zwar die Alltagssprache, aber die deutsche Schriftsprache nicht richtig und haben daher wenig Selbstvertrauen. Häufig sind sie von Arbeitslosigkeit betroffen. Psychisch äußert sich das in vermehrten Suchterkrankungen: Alkohol, Spielsucht, legale und illegale Drogen.

Außerdem ist durch die nie erlebte Eltern-Kind-Beziehung bei dieser zweiten Generation Beziehungsunfähigkeit sehr verbreitet – abzulesen an der sehr hohen Zahl von Scheidungen. Viele haben 30 bis 40 Jahre lang die Vorstellung verinnerlicht, dass ihre Eltern sie nicht geliebt haben. Oft gibt es eine regelrechte Wut auf die Eltern, die sie auf ihr Umfeld übertragen.

Und welches Paket tragen die Kinder dieser Menschen – also die in Deutschland geborene 3. Generation, die heute Kinder und Jugendliche sind – mit sich rum?

Leider werden die Probleme ja von Generation zu Generation weitergegeben. Diesen Mechanismus kann man nicht unterschätzen. Diese Kinder tragen auf andere Art die Probleme ihrer Großeltern, aber auch die ihrer Eltern als Paket mit sich rum: Kernproblem ist, dass diese Elterngeneration, die ihrerseits die Eltern-Kind-Beziehung nicht verinnerlicht hat, mit ihren Kindern vielfach nicht gut umgehen kann.

Wie wirkt sich das konkret aus?

Es gibt zwei Problemgruppen. Die einen sagen, weil ich es so schwer hatte, sollen meine Kinder es besser haben. Deshalb leben sie auf übertriebene Weise ausschließlich für ihre Kinder und setzen ihnen keine Grenzen. Solche Kinder tragen Markenklamotten, die die Eltern sich vom Mund absparen, oder fahren mit 20 einen BMW.

Im Ergebnis gibt es in dieser Kindergeneration oft eine große egoistische Einstellung und Solidarität spielt keine Rolle. Und da gibt es noch die andere Gruppe leistungsorienterter Eltern, die erwarten, dass ihr Kind die Chancen nutzt, die sie selber nicht gehabt haben.

Das sind dann die 18-Jährigen, die jetzt bei Ihnen sitzen...

Genau. Sie leiden unter diesem Riesenleistungsdruck und sitzen hier mit Überforderung und depressiven Störungen – oft auch mit Beziehungsunfähigkeit.

In der biodeutschen Mehrheitsgesellschaft gibt es für diese Probleme keine Wahrnehmung. Es herrscht im Gegenteil eine Vorwurfshaltung, indem man über mangelnde Integration klagt oder nicht versteht, warum es in der dritten Einwanderungsgeneration immer noch Probleme gibt.

Weil wir uns in der Bundesrepublik mit diesem speziellen Teil der Migrationsgeschichte nie auseinandergesetzt haben. Viele verstehen unter Migration einfach einen Ortswechsel auf Zeit. Man muss sich klar machen, dass wir noch über das Jahr 2000 hinaus diskutiert haben, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist.

Und das nach 50 Jahren Migrationsgeschichte, in denen wir die Leute alleingelassen haben. Die erste Generation hatte hier keine Chance, die Sprache zu lernen. Die haben vom ersten Tag an gearbeitet. Da haben wir 2015 schon vieles besser gemacht. Wir lernen erst jetzt, dass Integration und auch Sprachkurse von vorneherein an allererster Stelle stehen müssen.

Was könnte man denn in Köln heute besser machen, gerade als Stadt, in der sich damals besonders viele Gastarbeiter niedergelassen haben?

Was wir diesen Menschen der ersten Generation im Alter schuldig sind, wären viel mehr Wohngruppen und Heime mit so genannter kultursensibler Pflege. Also Einrichtungen, die sich auch auf die Betreuung von Senioren mit türkischen, russischen oder italienischen Wurzeln spezialisiert haben und wo Menschen auch ihre Sprache sprechen. Bis jetzt gibt es das nur in Köln-Mülheim – mit sehr langen Wartezeiten.

Dabei ist der Bedarf riesig und wird zunehmen. Oder ambulante Gruppenangebote für türkischstämmige Senioren wie Gesprächskreise oder betreute Spaziergänge. Da könnte man präventiv viel Geld sparen. Viele dieser Senioren sind vor Langeweile depressiv. Sie haben keinen Spaß mehr am Leben, weil sie sich über die Arbeit definiert haben und keine Freizeitgestaltung kennen.

400 türkische Gastarbeiter kamen 1961 in Deutschland an. Die meisten schufteten im Bergbau und in der Stahlindustrie.

400 türkische Gastarbeiter kamen 1961 in Deutschland an. Die meisten schufteten im Bergbau und in der Stahlindustrie.

Wenn wir noch mal den Fokus auf die Jungen richten: Welche Rolle spielen Ihrer Erfahrung nach Diskriminierungserfahrungen in deren Leben?

Es ist ein Phänomen, das sich durch alle Generationen zieht, aber die hier geborenen Jungen besonders trifft. Sie sind deutsche Staatsangehörige, werden aber immer noch benachteiligt, weil sie einen anderen Namen tragen oder anders aussehen. So müssen sie etwa sieben oder achtmal mehr Bewerbungen schicken, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung hatten 60 Prozent der Handwerksbetriebe noch nie einen Auszubildenden mit Migrationshintergrund.

Gerade für die gut Ausgebildeten ist das psychisch sehr belastend. Sie sagen: Verdammt noch mal, wir haben gute Abschlüsse und hier studiert und sind trotzdem lange arbeitssuchend. Ich habe als Klientin eine sehr motivierte junge Frau, die Lehrerin geworden ist. Trotz vieler Bewerbungen ist sie immer noch arbeitslos. Sie ist verzweifelt und kann das nicht begreifen, wo doch in den Schulen Lehrer fehlen.

Ist das auch ein Grund für den Erfolg, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gerade bei Deutschtürken hat?

Natürlich treibt das Gefühl, in Deutschland nicht als gleichwertig betrachtet zu werden, Erdogan viele Stimmen zu. Mangelnde Teilhabe treibt sie in seine Arme. Hinzu kommt, dass er gerade bei den Älteren ihr idealisiertes Heimatbild bedient und gleichzeitig über die AKP viel für die Deutschtürken tut. Die Botschaft ist: Wir kümmern uns.

Genau die senden wir oft nicht aus. Diese Gesellschaft ist noch immer nicht in der Lage, diese Menschen als gleichberechtigt zu akzeptieren. Dabei haben in Großstädten wie Köln mittlerweile 50 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund.

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