Zehn Stunden Evakuierung, 20.000 Betroffene und ein paar Zwischenfälle– eine Bombenentschärfung in der Größenordnung wie am Mittwoch hat Köln seit Kriegsende nicht erlebt.
Chronologie der Bomben-EntschärfungWie ein Verweigerer ganz Köln vom erlösenden Moment abhielt – und dann verschwand

Zwei der drei Weltkriegsbomben werden um 19:09 Uhr entschärft verladen.
Copyright: Christoph Reichwein/dpa
Noch am Nachmittag schien die größte Evakuierung nach einem Bombenfund, die Köln seit Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat, ein überraschend schnelles Ende zu nehmen. 20.000 Anwohnerinnen und Anwohner in Deutz und der Innenstadt hatten ab acht Uhr ihre Häuser und Wohnungen verlassen. Das Ordnungsamt hatte den Sperrbereich von 1000 Metern um die Funde von drei Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg auf der Deutzer Werft in Sektoren eingeteilt, und nun wurde einer nach dem anderen als „sicher“, also vollständig evakuiert, deklariert.
Nach hinten raus zog sich die Evakuierung aber dann doch noch ein paar Stunden in die Länge – unter anderem, weil eine Person sich weigerte, die Altstadt zu verlassen. Ein denkwürdiger Tag in der Chronologie.

Blick ins Lagezentrum der Stadtverwaltung im Stadthaus Ost.
Copyright: Alexander Schwaiger
6.55 Uhr: Auch das RTL-Sendezentrum am Kennedy-Ufer liegt im Gefahrenbereich, das Programm am Mittwochmorgen muss umgestellt werden. Die Frühmagazine „Punkt 6“ und „Punkt 7“ werden noch live aus den Studios in Deutz übertragen, „Punkt 8“ entfällt. Bis 8 Uhr wird das Gebäude komplett evakuiert. Alle RTL-Beschäftigten am Kölner Standort arbeiten heute aus dem Mobile Office. Die Sendungen Punkt 12, RTL Aktuell und das RTL Nachtjournal werden live aus dem Hauptstadtstudio in Berlin gesendet. Alle weiteren Sendungen wurden vorab aufgezeichnet. Das tagesaktuelle TV-Programm von ntv wird ab 7 Uhr in Köln-Ossendorf produziert.
Alles zum Thema Kölner Verkehrs-Betriebe
- München, Hamburg, Berlin Sicherheitsoffensive der KVB – So gehen andere deutsche Großstädte vor
- „Probleme sind drängender geworden“ Welche konkreten Maßnahmen die KVB gegen die Verwahrlosung plant
- Verwahrlosung in der Innenstadt Die KVB hat gute Gründe, nicht einfach nur zuzuschauen – doch die Politik muss helfen
- Kontrollen, Schließungen, Musik KVB kündigt große Sicherheits-Offensive in Köln an
- Unfall in Köln Fußgänger von Auto in Lindenthal angefahren
- „Trinke Kölsch, wenn es vorbei ist“ So lief die Evakuierung des Eduardus-Krankenhauses in Deutz
- Schutz der Grünfläche Maßnahmen gegen Falschparker auf Chlodwigplatz-Kreisel gefordert
7.30 Uhr: Eine halbe Stunde, bevor der erste Klingeldurchgang beginnt und Straßensperrungen eingerichtet werden, rücken die Einsatzkräfte des Ordnungsamtes in die Innenstadt und nach Deutz aus.

Einsatzkräfte des Ordnungsamtes beim Klingeldurchgang in Deutz.
Copyright: Henning Kaiser/dpa
8.41 Uhr: Die Geräuschkulisse am Dom ist von rollenden Koffern geprägt. Überall machen sich Grüppchen von ihren Hotels auf den Weg aus dem Evakuierungsbereich. Ordnungsamt und Polizei lotsen Autofahrer durch die Straßen. Auch Lehrerin Monika Hermle und die Abschlussklasse der Uhlandschule Mühlacker in Baden-Württemberg machen sich auf den Weg zum Hauptbahnhof. Sie brechen ihre Abschlussfahrt nach Köln einen Tag früher als geplant ab. „Das ist schon ärgerlich“, sagt Hermle. Köln habe den Schülerinnen und Schülern sehr gut gefallen. Vor allem aber wird die Heimfahrt zu einem organisatorischen Kraftakt. „Die Fahrkarten waren alle schon gebucht, neue zu kaufen, hätte rund 2000 Euro gekostet. Das gibt die Klassenkasse nicht mehr her.“ Deswegen mache sich jetzt ein Kollege aus Mühlacker mit dem Transporter auf den Weg nach Köln und bringe die Kinder in mehreren Fuhren zurück in die Heimat.

Eine Abschlussklasse aus Baden-Württemberg muss ihren Köln-Besuch früher als geplant abbrechen.
Copyright: Florian Holler
10.13 Uhr: Der Leiter der Feuerwehr, Christian Miller, macht sich ein Bild von der Situation am Eduardus-Krankenhaus in Deutz, während Rettungswagen die ersten von 67 Patienten in andere Kölner Krankenhäuser verlegen. „Das Krankenhaus ist einer der Einsatzschwerpunkte“, sagt Miller. „Ich habe mit Patienten gesprochen. Das Gute ist, dass wir 48 Stunden Vorlauf hatten. Wir sind gut vorbereitet.“ Es helfen 500 zusätzliche Einsatzkräfte aus dem Umland und von der freiwilligen Feuerwehr.

Rettungswagen reihen sich vor dem Eduardus Krankenhaus in Deutz ein. Dutzende Patienten mussten verlegt werden.
Copyright: Alexander Schwaiger
10.42 Uhr: Auch zwei Seniorenheime müssen geräumt werden. Das CBT-Wohnhaus An St. Georg und das Caritas-Altenzentrum St. Heribert. Dort stehen Busse bereit, um die Menschen abzuholen.
11.23 Uhr: Die Lage am Hauptbahnhof ist entspannt. Einige Fahrgäste blicken zwar fragend auf die Anzeigetafeln, die meisten Züge fahren aber noch wie gewohnt. Nur der Halt in Deutz entfällt. Erst kurz vor der Entschärfung wird auch die Hohenzollernbrücke gesperrt. Dann geht in Richtung rechte Rheinseite gar nichts mehr. Am Neumarkt informieren Mitarbeiter der KVB und Lautsprecher-Durchsagen, dass auf den Stadtbahnlinien Richtung Rhein Haltestellen entfallen.
12.06 Uhr: Von der Evakuierung ist auch die Hilfsstation für Obdachlose „Gulliver“ betroffen, die am Mittwoch nicht öffnen kann. „Auch für Obdachlose ist die Evakuierung eine große Belastung“, sagt Sebastian Ebert, Sozialarbeiter bei Gulliver. Immer wieder klingelt sein Telefon, viele Obdachlose fragen ihn, was los ist und wo sie nun hinsollen. „Ich verweise dann auf andere Hilfsangebote“, sagt Ebert. „Aber ganz können die anderen Einrichtungen es nicht auffangen, dass wir heute nicht öffnen dürfen.“ So würden nun etwa Plätze zum Duschen, Essensangebote und Toiletten wegfallen. „Immerhin wussten wir gestern schon Bescheid und konnten unsere Gäste vorwarnen.“

Die Freundinnen Bärbel Sternenberg (l.) und Elisabeth Schön vertreiben sich die Zeit in der Anlaufstelle auf dem Messegelände.
Copyright: Johannes Mönch
12.44 Uhr: Ungefähr 150 Menschen haben sich in der für 1000 Personen ausgelegten Anlaufstelle an der Kölner Messe in Deutz versammelt. „Wir hatten eigentlich vor, wegen der Evakuierung nach Brühl raus zu fahren. Aber dann dachten wir, dass später sicher alle zurück in die Innenstadt wollen und es dann Stau gibt“, sagt Elisabeth Schön (78). Seit kurz vor zehn sei sie hier und seitdem „vor allem am quatschen“. „Gleich kriegen wir Suppe“, freut sich ihre Freundin Bärbel Sternenberg (85). Vegetarischer Eintopf und eine Variante mit Würstchen. Das war eigentlich nicht vorgesehen, wurde aber spontan veranlasst – auch weil viele ältere Menschen gekommen sind.
Für die Freundinnen ist es die erste Evakuierung in Köln wegen einer Fliegerbombe, aber Sternenberg kann sich noch gut an die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg erinnern. Damals lebte sie in Thüringen. „Da sind wir ausradiert worden und mussten aus unserer Wohnung raus.“ Die Flucht aus ihrer Heimat sei für sie noch sehr präsent. Schön gehe es ähnlich, sagt sie, erst kürzlich habe sie sich nochmal Bilder des zerstörten Köln angesehen. Zu den Einsatzkräften hier und heute spüre sie ein großes Vertrauen, schildert Sternenberg: „Et hätt noch emmer joot jejange.“ Die Nachricht über die gefundenen Fliegerbomben in Köln habe ihre Verwandten in ganz Deutschland erreicht. „Eine Cousine aus Berlin und eine Nichte aus München haben angerufen und gefragt: Was ist bei euch los?“

Blick auf den Fundort der drei Bomben auf der Deutzer Werft, unterhalb der Deutzer Brücke.
Copyright: Martina Goyert
14.24 Uhr: Seit einer knappen Stunde läuft der zweite Klingelrundgang, alles geht ein wenig zügiger als befürchtet. „Wir sind mit dem bisherigen Verlauf super zufrieden“, sagt Ordnungsamtsleiter Ralf Mayer. Zwei Altenheime und das Eduardus-Krankenhaus sind bereits geräumt. Die Kölner Bürgerinnen und Bürger seien sehr kooperativ, es habe lediglich zwei Widerstände gegeben – einen in Kalk, wo ein Radfahrer versucht habe, eine Absperrung zu durchbrechen und eine Einsatzkraft angespuckt habe, und einen an der Nord-Süd-Fahrt, „wo eine Person einfach den Bereich nicht verlassen wollte“, berichtet Mayer.

An einer Sperrstelle halten Beamte einen Mann auf, der versucht haben soll, mit einem Fahrrad in das Evakuierungsgebiet zu fahren.
Copyright: Christoph Reichwein/dpa
Wer übrigens glaubt, sich bei einer Evakuierung einfach zu Hause einsperren zu können, sollte beachten, dass die Einsatzkräfte auf solche Fälle vorbereitet sind. „Wir achten auch auf Dinge wie Hundegebell oder laufende Duschen, um festzustellen, ob noch jemand im Haus ist. Auch ein verzogener Vorhang oder ein geöffnetes Fenster beim zweiten Durchgang sind Hinweise“, berichtet eine Einsatzkraft des Ordnungsamtes. Im Falle eines Widerstandes kann ein Bußgeld von bis zu 1000 Euro fällig werden.
Erstmals setzt die Feuerwehr Köln am Mittwoch eine Drohne ein, um zu kontrollieren, ob sich in der Sperrzone noch irgendwo Menschen aufhalten. An der Drohne ist ein Lautsprecher für Durchsagen befestigt.

DIe menschenleere, evakuierte Altstadt.
Copyright: Martina Goyert
16.35 Uhr: Der zweite Klingelrundgang ist beendet, der Verkehr über die Brücken eingestellt, ganz Köln wartet auf die Entschärfung. Aber: Die Freigabe verzögert sich. Eine einzelne Person weigert sich, die Altstadt zu verlassen und ist offenbar vor den Einsatzkräften weggelaufen.
17.00 Uhr: Weil nun auch die Hohenzollernbrücke für den Zugverkehr gesperrt ist, geht am Hauptbahnhof fast nichts mehr. Die Anzeigetafel ist weiß gefärbt und mit dem Hinweis „Fahrt fällt aus“ versehen. Vor dem Infoschalter der Deutschen Bahn wird die Schlange der Wartenden immer länger. Derweil stauen sich die Autos auf zahlreichen Straßen um die Innenstadt, der Verkehr fließt immer zäher.

Auf dem S-Bahn-Gleis am Hauptbahnhof drängen sich am späten Nachmittag die Reisenden.
Copyright: Florian Holler
17.40 Uhr: An Gleis 10 im Hauptbahnhof bricht Hektik aus. Als nach langer Zeit die erste S-Bahn einfährt, laufen die Reisenden Richtung Bahn, um einen Platz zu bekommen. Innerhalb kürzester Zeit ist der Zug voll, immer mehr Menschen quetschen sich hinein. Vor der Bahn fällt eine Frau zu Boden und schreit auf. Sicherheitsmitarbeiter haben sichtlich Mühe, die Gemüter zu beruhigen.
17.50 Uhr: Im eigentlich längst evakuierten Sperrbereich in Deutz werden die Ordnungskräfte unerwartet auf eine bettlägerige Frau aufmerksam, die mit einem Krankenwagen weggebracht werden muss.
18.12 Uhr: Die Suche nach der Person, die sich widersetzt hat, wurde eingestellt. Laut Aussagen der Einsatzkräfte ist sie in einen Hauseingang gelaufen und war dann nicht mehr auffindbar. Der entsprechende Bereich wird nun als „sicher“ deklariert. Unterdessen hat sich noch ein Mann beim Ordnungsamt gemeldet, der eine Fußoperation hinter sich hat und ebenfalls noch abtransportiert werden muss.
18.18 Uhr: Die Freigabe ist erteilt. Jetzt schlägt die Stunde der Entschärfer.
19.19 Uhr: Alle drei Bomben sind entschärft — zwei Schwergewichte von je 20 Zentnern und eine mit 10 Zentnern. Die Experten des Kampfmittelbeseitigungsdienstes haben sie nacheinander unschädlich gemacht. Die Menschen können zurück in ihre Wohnungen, die Brücken werden freigegeben, jetzt rollt auch der Verkehr von KVB und Deutscher Bahn wieder an. „Trotz der enormen Herausforderung lief es Mittwoch lange Zeit fast reibungslos“, bilanziert ein Stadtsprecher. Auch der renitente Fahrradfahrer wird bald wieder aus dem Gewahrsam entlassen.