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Schulen im AufbruchBerliner Projekt in Sülz vorgestellt

Lesezeit 4 Minuten

Aus dem Publikum gab es im Anschluss viele Fragen.

Sülz – Was geht im Unterricht in den Köpfen der Schüler vor? Diese Frage stellt Bernd Schwesig, Leiter des Elisabeth-von-Thüringen- Gymnasiums, in der Aula, die seine Schule mit dem Schillergymnasium teilt. Eine Antwort hat er nicht, so viel aber weiß er doch: „Die Lehrer haben keine Ahnung. Manche argwöhnen sogar, dass der Unterricht die Schüler am Lernen hindert.“ Die Besucher horchen auf: Verabschieden sich die Pädagogen nun vom Schulunterricht? Schulen im Aufbruch heißt die Initiative, die an diesem Abend zu der Veranstaltung Lernlust statt Lernfrust geladen hat und eine Änderung der Lernkultur propagiert.

Die bundesweite Initiative besteht aus Schulleitern, Pädagogen, Schülern und Eltern. Wie die unterrichtsfreie Schule aussehen soll, zeigen sie anhand eines Filmes, der in der Aula auf der Leinwand zu sehen ist: Schüler der evangelischen Schule Berlin Zentrum erklären dort, wie sie funktioniert: An der Berliner Gemeinschaftsschule, gibt es statt Unterricht für Fächer wie Mathematik, Deutsch und Englisch sogenannte Lernbüros, in denen die Schüler mit Hilfe verschiedener Bausteine und Unterstützung der Lehrer selbstständig lernen. Nebenfächer werden in Projekten erarbeitet. Es gibt keine Noten. Die Schüler entscheiden selbst, wann sie einen Test schreiben.

Neben den gewöhnlichen Fächern gibt es Pflichtprojekte, die zum Ziel haben, den Kindern weitere Fähigkeiten zu vermitteln, die entscheidend sind: Verantwortung zu übernehmen und Herausforderungen zu meistern. Zwei Klassenlehrer, Tutoren genannt, nehmen sich Zeit für die Schüler.

Begeisterung schwingt mit

„Meine Tutorin kannte mich nach einer Woche besser als meine frühere Klassenlehrerin nach vier Jahren“, erzählt ein Mädchen. Begeisterung schwingt mit, wenn die Kinder von der Schule berichten. „Es ist doch so, dass die meisten es wissen, dass sich etwas in unserem herkömmlichen Schulsystem ändern muss“, sagt eine Schülerin.

Das hat Margret Rasfeld, Leiterin der evangelischen Schule Berlin Zentrum, mit dem neuen Konzept getan. „Wir befinden uns in unserer Gesellschaft im Aufbruch. Doch der Schulsystem ist noch so wie vor hundert Jahren, eines das Schultage aufstückelt in starre Einheiten von 45 Minuten und Kinder einteilt und etikettiert“, sagt sie im Film. Deutschland als ressourcenarmes Land lebe von Innovationen, doch Kreativität und Innovation würden im Schulsystem verhindert. „Was wir heranziehen, sind Pflichterfüller“, so Rasfeld. Auch der Neurobiologe Gerald Hüther kommt im Film zu Wort: Die Forschung habe bewiesen, dass Botenstoffe, die zur Vernetzung von Synapsen führen, im Gehirn dann ausgeschüttet werden, wenn etwas Spaß macht. Statt Spaß aber beherrsche Wettbewerb die Schulen. „Doch ein positives Ich-Gefühl, das ich nur habe, weil ich besser bin als der andere, ist Egozentrik. Wir erziehen die Schüler zu Einzelkämpfern“, sagt Hüther. Menschen seien aber soziale Wesen. „Mit individuellen Talenten gemeinsam etwas zu schaffen, das größer ist als man selbst, das ist Menschlichkeit.“

Die leidenschaftlichen Plädoyers hinterlassen ihre Spuren: Was kann man tun, um eine solche Lernkultur an unseren Schulen zu etablieren? Diese Frage stellen gleich mehrere Anwesende. Manfred Pulm, leitender Regierungsschuldirektor der Bezirksregierung Köln, beantwortet sie: „Viel von dem, was im Film gezeigt wurde, ist doch in NRW möglich. Ich hindere niemanden daran, ein Lernbüro einzurichten“, so seine Antwort. Allerdings: Mehr Geld bekäme eine Schule für das neue Konzept nicht.

Patricia Wolf, Leiterin des Deutzer Thusneldagymasiums, hat trotzdem bereits einige Ideen der Berliner umgesetzt. Wie auch in der evangelischen Schule Berlin gibt es zum Beispiel einen Klassenrat, den die Kinder selbst moderieren und wo sie Probleme ansprechen. Dort werden grundlegende soziale Kompetenzen und die Übernahme von Selbstverantwortung eingeübt.

Zweitbester Durchschnitt

Mit zwei Schülerinnen der evangelischen Schule Berlin steht Wolf den Besuchern und den Schülersprechern des Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasiums und des Schillergymnasiums Rede und Antwort. „Was macht man denn, wenn man beispielsweise in der Jahrgangsstufe 11 nicht gut genug ist“, will Lars, der Schülersprecher des EVT, wissen. „Ich weiß nicht, was du mit nicht gut genug meinst“, sagt Uma von der evangelischen Schule Berlin-Zentrum.

Die Kategorien gut und schlecht gibt es an ihrer Schule ebenso wenig wie Noten. Erst bei zentralen Abschlussprüfungen wie dem Abitur werden die Schüler zwangsläufig nach den Notensystemen bemessen. „Nun erzähl’ schon, dass der erste Abiturjahrgang an eurer Schule den zweitbesten Durchschnitt von Berlin hatte“, drängt Patricia Wolf sie.

„Ich bin wirklich sehr beeindruckt von den Berliner Schülern“, sagt auch Bernd Schwesig. Ob er sich vorstellen kann, das Konzept am Elisabeth-von Thüringen-Gymnasium umzusetzen? Da ist er skeptisch: „Lehrer gehen von solchen Veranstaltungen oft begeistert nach Hause. Und am Montag findet man sich in dem gleichen Hamsterrad wieder“, sagt Schwesig. Er wolle nicht pessimistisch sein, aber es fehle den Schulen an Personal. „Mehr Geld gibt es in den Sonntagsreden der Politiker. Bildung ist uns nichts wert.“