Spurensuche in Köln-LindenthalTod im Bunker unter dem Melaten-Friedhof

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Elf Stufen führen hinab in den Bunker.

Elf Stufen führen hinab in den Bunker.

Lindenthal – Sie sind erst seit wenigen Stunden verheiratet. Den Abend will das Paar mit etwa 100 Freunden und Verwandten in einer Gaststätte an der Aachener Straße in Lindenthal ausklingen lassen. Eine Hochzeitsfeier mitten in Kriegszeiten. Es ist Montag, der 30. Oktober 1944, als um 20.37 Uhr plötzlich Sirenen losheulen. Fliegeralarm.

Hastig verlässt die Gesellschaft das Lokal. Männer, Frauen und Kinder flüchten über die Straße auf den Friedhof Melaten. Sie finden Zuflucht in einem Tiefbunker neben der kleinen Kapelle, gleich hinter der Friedhofsmauer – ein so naheliegender wie fataler Entschluss. Denn wenig später schlägt eine Bombe genau vor dem Eingang auf. Sie zerstört den Luftschacht – die Schwachstelle des Bauwerks. Es ist ein unglaublich tragischer Zufall.

Eine Druckwelle fegt durch die 50 Meter lange unterirdische Röhre. Sie lässt den Menschen, die sich auf niedrigen Holzbänken Schulter an Schulter aneinander gekauert haben, keine Chance. Ihre Lungen platzen. Die gesamte Hochzeitgesellschaft ist auf der Stelle tot.

Heute erinnert nur noch eine kleine Gedenkstätte neben der Kapelle an das dramatische Ereignis vor 71 Jahren. Der Eingang zum Bunker liegt ein paar Meter weiter, in der Nähe des Verwaltungsgebäudes.

Eine enge Treppe führt drei Meter hinab bis vor eine schwere, rostige Eisentür. Der Eingang ist erst nach dem Krieg angelegt worden, um den Bunker zugänglich zu machen. Der ursprüngliche Zugang, den die Bombe verwüstet hat, ist von oben nicht mehr zu sehen.

Kaum einer kann sich erinnern

„Eine ganz schlimme Geschichte“, sagt Friedhofschef Peter Lejeune und dreht den Schlüssel im Schloss. Eine Geschichte, die nahezu in Vergessenheit geraten ist. Die Namen der Opfer sind nicht bekannt, Hinterbliebene nicht aufzutreiben.

In keiner Chronik ist das Ereignis erwähnt, auch im Internet finden sich nur spärliche Hinweise. Selbst alteingesessene Kölner, die ihre Kindheit während des Zweiten Weltkriegs in Ehrenfeld oder Lindenthal verbracht haben, reagieren überrascht, wenn sie von der Existenz eines Bunkers unter Melaten erfahren. An das Schicksal der Hochzeitsgesellschaft kann sich niemand mehr erinnern.

Lesen Sie im nächsten Abschnitt: Warum der Bunker gegen Bombentreffer nur unzureichend geschützt war.

Auch Friedhofschef Lejeune kennt die Geschichte nur vom Hörensagen. Er schaltet das Licht ein. Hinter der Tür erstreckt sich ein 20 Meter langer Gang. Am Ende türmen sich Gesteinsbrocken, es sind die Überreste der eingestürzten Decke über dem damaligen Eingangsbereich. Der Lärm muss ohrenbetäubend gewesen sein. Jetzt herrscht hier unterirdische Stille. Es riecht feucht. Von der Decke hängen Spinnweben herab, dicht wie ein weißer Vorhang.

Vor den Trümmern knickt der Gang im 90-Grad-Winkel nach links ab und endet nach 50 Metern in einem Raum, aus dem eine verrostete Stahlleiter nach oben führt. Ein Notausstieg.

„Streng genommen handelt es sich nicht um einen Bunker, sondern um einen Deckungsgraben, der Schutz vor Trümmern, Splittern, Gaseinwirkung und der Druckwelle bieten sollte“, erklärt Robert Schwienbacher vom Kölner Institut für Festungsarchitektur (Crifa). Diese oft L-förmig angelegten Bauwerke waren damals weit verbreitet in der Stadt. Sie waren schneller, günstiger und mit weniger Material anzulegen als massive Luftschutzbunker. Gegen Bombentreffer schützten sie aber nur bedingt.

Die Decken waren höchstens 60 Zentimeter dick, meistens deutlich dünner. Viele Deckungsgräben hatten nicht mal einen Schacht für die Frischluftzufuhr. Je länger der Angriff dauerte, desto feuchter wurde es im Innern – von der Atemluft, dem Schweiß und den Ausdünstungen der Menge. „Die Menschen damals wussten, dass diese Bauwerke keinen hundertprozentigen Schutz boten“, erzählt Schwienbacher. Man nannte diese Bunker daher „Angströhren“.

Was genau sich in den dramatischen Minuten am Abend des 30. Oktober 1944 unter Melaten abspielte, weiß niemand. Der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter im Büro des Stadtkonservators, Johannes Ralf Beines, hörte die Geschichte der Hochzeitgesellschaft erstmals von seiner Mutter, die damals Verwandte in Lindenthal hatte. „Danach habe ich sie immer mal wieder von Anwohnern erzählt bekommen“, sagt Beines. Aber das sei schon viele Jahre her.

Eine „ganz normale bürgerliche Hochzeit“ sei es demnach gewesen. Die Leichen seien wohl in Familiengräbern beigesetzt worden, vermutet Beines. Ein Gemeinschaftsgrab gibt es nicht. Zum 50. Jahrestag 1994 wollte Beines ein „stilles Gedenken“ schaffen, damit die hundert Opfer nicht in Vergessenheit geraten. Deshalb ließ er die Gedenkstätte errichten.

So wenig über ihr Schicksal bekannt ist, so viel weiß man heute über den verheerenden Luftangriff an jenem 30. Oktober. „Es war die Nacht, in der der Rest von Lindenthal unterging“, sagt Beines – der schwerste von 262 Angriffen, die alliierte Luftgeschwader während des Kriegs auf Köln flogen. Die breite Aachener Straße diente den Piloten dabei als Orientierungspunkt.

Friedhof von Bomben verwüstet

Zwischen 20.37 Uhr und 22.18 Uhr gingen 4000 Sprengbomben und 200.000 Brandbomben auf Köln nieder, notiert Peter Simon in seiner Statistik „Köln im Luftkrieg 1939-1945“. Fast eintausend Bomber flogen über die Stadt hinweg, 554 Menschen starben – etwa drei Prozent aller 20 000 Kölner, die im Zweiten Weltkrieg umkamen.

Fast 5000 Wohnhäuser wurden in knapp zwei Stunden beschädigt, die meisten in Ehrenfeld, Lindenthal, Klettenberg, Braunsfeld und Sülz. Ein Sprengsatz zerstörte St. Mechtern in Ehrenfeld, das Universitätsviertel wurde nahezu ausgebombt, ebenso das Dreifaltigkeitskrankenhaus und die ehemalige Wehrmachtskommandatur in der Heliosstraße.

Auch Melaten wurde schwer verwüstet. Der Bunker war offenbar nicht der einzige Ort, in dem Menschen Zuflucht suchten. „Es war damals in der Nachbarschaft bekannt“, erzählt eine alteingesessene Ehrenfelderin, „dass sich in den großen Familiengruften entlang der Millionenallee Juden versteckt hielten.“ Im Schutz der Dunkelheit hätten Anwohner sie mit Essen und Trinken versorgt. So absurd es klingen mag – aber womöglich hat der Friedhof in jener Nacht auch einigen Menschen das Leben gerettet.

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