Nur 60 Kalorien am Tag22-jährige Kölnerin spricht über ihre Magersucht

Lesezeit 4 Minuten
Der Blick in den Spiegel ist für viele Magersüchtige besonders wichtig, sie kontrollieren ständig ihr Aussehen.

Der Blick in den Spiegel ist für viele Magersüchtige besonders wichtig, sie kontrollieren ständig ihr Aussehen.

  • Mit 13 beginnt Celina Kolf eine Diät.
  • Irgendwann isst sie pro Tag nur noch eine Mandarine und wiegt 31 Kilogramm.
  • Von einer Krankheit, an der unsere Gesellschaft eine große Mitschuld trägt.

Köln – Bevor Celina Kolf mit Freunden essen geht, schaut sie sich im Internet die Speisekarte an. Sie plant, welches Gericht sie bestellen wird und was sie dazu trinkt. „Ich brauche die Sicherheit“, sagt die 22-Jährige. Celina Kolf musste essen neu lernen: Was schmeckt mir? Wie groß ist eine Portion? Wann bin ich satt? Die Kölnerin mit den langen blonden Haaren war jahrelang magersüchtig und kämpft immer noch täglich mit der Krankheit, erzählt sie in einem italienischen Café im Kölner Westen. Sie trinkt einen Cappuccino, im Hintergrund schreien Kinder auf dem Spielplatz und übertönen manchmal ihre bedächtig gewählten Worte.

Instagram als Therapie

Celina Kolf geht offen mit ihrer Krankheit um. „Dieser Punkt geht an die Magersucht“ schreibt sie einmal auf der Social-Media-Plattform Instagram. Etwa 6000 Menschen folgen ihrem Account, auf dem die Influencerin zum Beispiel über ihre Zeit in der psychiatrischen Klinik berichtet und stolz ihre selbstgekochten Mahlzeiten zeigt, aber auch Rückfälle gesteht. „Ich tausche mich viel mit anderen aus, die ähnliches durchmachen“, sagt Celina über die soziale Plattform. Sie erhält dort viel Zuspruch, gibt aber auch zu, dass die Bilder der anderen in ihr den Wunsch wecken, selbst wieder dünner zu sein.

Für viele Experten ist Instagram vor allem eins: ein Motor der Magersucht für junge Mädchen. Laut einer Krankenkassen-Studie gäbe es einen Anstieg der ärztlich diagnostizierten Essstörungen bei Elf- bis 17-Jährigen, der auf die erhöhte Social-Media-Nutzung zurückzuführen sei. Der Gedanke liegt nahe. Besonders Instagram ist vordergründig oberflächlich, ein Ort der Selbstinszenierung. Ziel ist das perfekte Bild im richtigen Licht. Natürlich mit einem makellosen Körper, der in unserer Gesellschaft eben möglichst dünn ist. „Die Medien vermitteln Kindern und Jugendlichen ein Bild, in dem Gewicht und Aussehen eine unheimlich wichtige Rolle spielen“, bestätigt Professor Christoph Wewetzer, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Holweide. Etwa 1,5 Prozent der Menschen in Deutschland leiden an Magersucht.

„Ich fand mich immer noch zu dick“

In den Sozialen Medien vergleichen sich die Mädchen nicht nur mit Stars, sondern mit vermeintlich normalen Gleichaltrigen. Und doch widerspricht er der These, dass nur das gesellschaftliche Schönheitsideal in den Medien junge Frauen in die Essstörung treibt. „Wir sprechen in der Klinik von verschiedenen Bausteinen“, erklärt der Kinderpsychiater. „Einer davon ist der Druck durch die Gesellschaft, ein weiterer ist die persönliche Veranlagung. Unsere Patientinnen sind oft sehr ehrgeizig und leistungsorientiert.“ Auslöser können auch ein Verlust, die Trennung der Eltern, ein Umzug oder Mobbing sein. Kann, muss aber nicht.

Neuer Inhalt

Celina Kolf im letzten Sommer, mittlerweile hat sie zugenommen.

Celina Kolf ist diszipliniert, sie strengt sich in der Schule an, macht viel Sport. Mit dem gleichen Ehrgeiz beginnt sie mit 13 Jahren eine Diät. Sie setzt ein Idealgewicht fest, das sie immer wieder durch ein niedrigeres Ziel ersetzt. Das Mädchen reduziert seine täglichen Kalorien, von 1600 auf 800, 600, 300. Sie wird dünner und dünner. Zu ihrer schlimmsten Zeit sei sie nicht mehr über 60 Kalorien am Tag gekommen, ein Glas O-Saft oder eine Mandarine als Tagesration. Trotzdem sieht sie selbst das Problem nicht. Ihre Mutter geht längst mit ihr zum Therapeuten, diverse Klinikaufenthalte folgen. „Ich fand mich immer noch zu dick.“

Körperschemastörung nennt Wewetzer dieses typische Merkmal einer Essstörung. Seine überwiegend weiblichen Patientinnen – Magersucht tritt bei Mädchen und Frauen zehn Mal häufiger auf als bei Jungen und Männern – müssten lernen, ihre Körper realistisch einzuschätzen. Zur Therapie gehören Bewegungsübungen und Aufklärung. Zum Beispiel darüber, dass die Schauspielerinnen in Magazinen digital nachbearbeitet sind.

Patientinnen sind immer jünger

Celina Kolf hat mit 20 Jahren einen Body-Mass-Index von elf. Bereits beim Wert 17,5 sprechen Ärzte in diesem Alter von Untergewicht. Ihr fallen die Haare aus, sie bekommt ihre Regelblutung nicht mehr und hat Herz-Rhythmus-Störungen. Bei ihrem letzten Klinikaufenthalt in Bonn 2018 geht es zunächst um die Gewichtszunahme, sie muss sich zwingen, zu essen. „Wenn die Mädchen zunehmen, verbessert sich auch die psychische Verfassung“, beobachtet Wewetzer. Das Gehirn nimmt die Außenwelt wieder wahr, es entwickelt wieder Interesse an anderen Dingen als der Magersucht.

Wann müssen bei Eltern die Alarmglocken klingen? „Wenn ein Kind kalorienreiche Lebensmittel durchgehend meidet und ganze Mahlzeiten auslässt“, sagt der Kinderpsychiater. „Auffällig ist es auch, wenn die Butter nur noch hauchdünn aufs Brot gekratzt, das Essen gekrümelt oder der Milchkaffee gelöffelt wird.“

Fest steht: Die Patientinnen werden jünger. „Früher war eine Zehnjährige eine Seltenheit. Heute kommen Neun- oder Zehnjährige, die schon das Vollbild einer Magersucht erfüllen.“ Doch Wewetzer macht auch Mut: Die Heilungschancen in einer Therapie lägen bei 70 Prozent. Allerdings haben magersüchtige Menschen laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ein fünf Mal höheres Risiko an Folgeerkrankungen zu sterben.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ist Celina geheilt? Schließlich kann sie ihr Verhalten mittlerweile reflektieren. Sie ist immer noch schlank, nimmt seit diesem Frühjahr aber konstant zu. Und dennoch sagt sie mit leiser Stimme: „Es gibt keinen Tag, an dem ich es nicht vermisse, dünn zu sein.“ Statt Kalorien zuzählen, treibt die 22-Jährige nun jeden Tag Sport. Drei Mal die Woche geht sie Joggen, vier Tage macht sie Krafttraining. Das sei schon fast wie ein Zwang, sagt sie.

KStA abonnieren