Mein VeedelMit Jupp Menth durch Widdersdorf

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Schmuckstück: Der Eingang zum Rather Hof

Schmuckstück: Der Eingang zum Rather Hof

Widdersdorf – 2004 Kilometer Fußweg – dafür mag man rund 400 Stunden benötigen – liegen noch vor dem Pilger nach Santiago de Compostela, wenn er es bis ins Neubaugebiet Prima Colonia geschafft hat. Der Jakobsweg führt durch Widdersdorf weiter zur Abtei Brauweiler. Die gelbe Muschel auf blauem Grund – eingelassen in die Begrenzungsmauer eines neuen Einfamilienhausgrundstücks – weist den Weg.

„Früher war das ein Feldweg hier, hundert Jahre Runkelrüben“, sagt Jupp Menth. „Jetzt geht’s über Asphalt durchs neue Wohngebiet für Häuser, die nicht jeder bezahlen kann.“ 132 Hektar Land zwischen Alt-Widdersdorf und der Autobahn 1 sind hier von einem privaten Investor überplant worden. Vor ein paar Jahren noch habe hier kein Haus gestanden, erinnert sich der „kölsche Schutzmann“. „Do wusste man, wo mer met dr Tant sonndachs spaziere kunnt.“ Am Ende des Feldwegs, den man mit der Tante entlangschlenderte, setzte man sich auf eine Bank vor einem großen Kreuz, bevor es wieder zurück ging zu Kaffee und Kuchen.

Größtes Neubaugebiet der Stadt

Das Kreuz zwischen ein paar alten Bäumen gibt es noch, die Bank davor wurde erneuert, gestiftet von der Widdersdorfer Interessengemeinschaft. Doch das Überbleibsel aus gar nicht so alten Tagen wirkt seltsam fremd im größten Neubaugebiet der Stadt. Jupp Menth gefällt’s trotzdem. Warum, wird man erst verstehen, wenn man nach dem Spaziergang durch das neue Widdersdorf das alte Widdersdorf kennenlernt. Die Planer des Projekts Prima Colonia haben sich große Mühe gegeben. Der alte Teil des Ortes wirkt dagegen so, als wenn ihn noch nie ein Stadtplaner besucht hätte.

Vor 30 Jahren ist der beliebte kölsche Büttenredner ins „Straßendorf“ gezogen. Vorher habe er immer in der Stadt gewohnt, zuletzt im Belgischen Viertel. „Doch do kannste kei Kind jroßtrecke.“ So habe es ihn und seine Familie an den ländlichen Stadtrand verschlagen. Damals entstanden in dem 1974 nach Köln eingemeindeten Dorf viele neue Häuser für junge Familien – eine Geschichte, die sich nun mit dem Bauprojekt „Prima Colonia“ wiederholt. Die alten Widdersdorfer glauben, dass es etwas dauern wird, bis Neu und Alt zusammenwachsen. Das war nicht anders, als damals die Menths hier hinzogen.

Das Einleben sei nicht leicht gewesen, sagt der ehemalige Polizist. Die Widdersdorfer hätten es den Zugezogenen aus der Stadt nicht leicht gemacht. „Da hättest du auch aus Paris kommen können.“ Die Skepsis war groß. Doch dann sei man „miteinander warm“ geworden, „irgendwann gehörte man dazu“. Jetzt freue er sich regelrecht, wenn er nach einem anstrengenden Karnevalswochenende nach Hause komme. „Wenn ich da auf den Bühnen rumgehext habe und dann auf der Rückfahrt das Ortsschild sehe, weiß ich, dass ich wieder Ruhe habe.“ Die Dorfgemeinschaft hat er schätzen gelernt, auch wenn nicht jeder mit jedem kann. Mit anderen Familien wurde die „Widdersdorfer Ährengarde“ gegründet, die jedes Jahr für den Karnevalszug durchs Viertel einen eigenen Wagen baut. 25 Jahre ist er mitgefahren, in diesem Jahr will er kürzer treten. „Man muss auch mal einen Schnitt machen, auch wenn es schwer fällt.“ Ähnlich hat sich Menth schon erklärt, als er vorletztes Jahr angekündigt hatte, nicht mehr auf den großen Karnevalsbühnen stehen zu wollen. Er hielt’s nicht durch. Die Pause war so kurz, dass es kaum einer merkte. Der 67-Jährige kann es nicht lassen – trotz der Erkenntnis, dass er als kölscher Redner in vielen großen Sälen nicht mehr verstanden wird, wenn er zornig und witzig, frech und laut über Politiker und Zeitgeist schimpft.

Der Spaziergang führt zur neuen breiten Prachtallee „Unter Linden“, vorbei am noch im Bau befindlichen „Jakobsplatz“, der dem neuen Viertel endlich ein paar Einkaufsmöglichkeiten bescheren wird. „Wat die hier maache“, staunt Menth. Ihm gefällt die großzügige Planung von Fußwegen, Plätzen und Grünflächen. „Im alten Widdersdorf sind die Bürgersteige so eng, dass man noch nicht mal zu zweit nebeneinander gehen kann.“ Dass es nicht gelungen ist, auch Wohnraum für Geringverdiener zu schaffen, stört ihn allerdings. „Man hat zu wenig gemacht für Leute mit weniger Geld.“

Auch das Verhältnis zum „neuen Prunkstück von Widdersdorf“ ist ambivalent. Einerseits genießt Menth den Weg durchs satte Grün der neuen Golfanlage, die der Investor entlang der Autobahn hat anlegen lassen, die hinter einer bunt bemalten Lärmschutzwand entlangführt. Andererseits hat er sich mit dem Sport nie anfreunden können. „Däm Spill kann ich nix affjewinne.“ Er habe manchen Auftritt bei „hohen Herrschaften in Golfclubs“ gehabt. „Das ist nicht unbedingt mein Publikum.“ Investor Norbert Amand habe Widdersdorf ein kleines „Mittelgebirge“ geschenkt, lobt der Schutzmann die hügelige Kunstlandschaft, von der man auf die großen Kraftwerke bei Bergheim und die Glessener Höhe schauen kann, „eine Braunkohleaufschüttung von anno pief“. Vom alten Widdersdorf sieht man von hier aus nicht mehr viel. Dazu muss man das Areal der Golfer über die Hauptstraße wieder verlassen. Hier findet man die großen alten Höfe; das Haus Rath oder den Neu-Subbelrather Hof, die glücklicherweise noch keine Immobilienfirma hat erwerben und zu teuren Eigentumswohnungen umwandeln können.

Eisessen vorm Kriegerdenkmal

Der Hofladen Widdersdorf lockt durch den ummauerten Torbogen in die 1870 erbaute Anlage, die einmal zum Brauweiler Kloster gehörte. Doch mit der Pracht aus alten Zeiten ist es schnell vorbei, wenn man die Hauptstraße weiter wandert. „Schön ist anders“, sagt Menth. In die Kneipen des Ortes geht der Karnevalist nicht mehr. Wenn er ausgeht, fährt er in die Innenstadt oder nach Pulheim. In seinem Veedel kann Menth gastronomisch nur das Eis im Café Dolomiti Due überzeugen, das gegenüber einem Kriegerdenkmal verkauft wird. Dort, wo der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Widdersdorfer gedacht wird, treffen sich im Sommer die Kinder, um Eis zu essen.

Vorher erreicht man den Buchladen Widdersdorf, wo der leidenschaftliche Krimileser seine Lektüre einkauft. Der Laden von Inge Nehrhoff sei sein „Kulturtempel“. Der letzte Krimi, der ihm hier empfohlen wurde, war Hakan Nessers „Himmel über London.“ „Ich komme nicht los vom alten Job“, sagt der Ex-Polizist. „Krimis sind oft grausam, aber die Realität ist noch grausamer.“

Auch die Realität vor dem Buchladen ist nicht erfreulich. Nehrhoff trotzt mit ihrem Geschäft dem Niedergang der Widdersdorfer Hauptstraße, an der mehrere Ladenlokale leer stehen. „Es ist schwer, sich hier zu halten“, sagt Menth. Die kleinen Geschäfte leiden unter der Konkurrenz der Großen wie dem Weidener Einkaufszentrum. Es wäre gut gewesen, wenn man dem Prima-Colonia-Investor auch hier ein bisschen Spielraum gegeben hätte, findet der kölsche Schutzmann. Alt-Widdersdorf ist offensichtlich ein vergessenes Stück Köln, um das sich längst jemand hätte kümmern müssen. Ein bisschen vom Schwung, mit dem nur ein Steinwurf entfernt etwas völlig Neues entstanden ist, würde vielleicht schon reichen, findet Menth.

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