Psychologin über Mobbing-Gründe„Aggressives Verhalten ist wahnsinnig attraktiv”

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Schüler vor Tafel Symbolbild

Schülerinnen und Schüler blicken auf eine Tafel (Symbolbild)

Frau Schäfer, Sie forschen seit vielen Jahren zum Thema Mobbing. Was ist ihre wichtigste Erkenntnis? Mechthild Schäfer: Seit langem wird das Thema in ein Täter-Opfer-Schema gepresst. Der Fokus auf die Opfer passt zu unserem humanistischen Menschenbild, entspricht aber nicht der Forschung und verhindert effektive Prävention. Übersehen wird gerne, dass Mobbing als Gruppenphänomen die Gruppe – das heißt alle Mitschüler -braucht. Es geht nicht darum, dass ein Täter einem Opfer schadet, weil er das Opfer hasst. Täter sind vielmehr findig, wen sie das Opfer instrumentalisieren können, um ihr Ziel zu erreichen: in der Klasse „das Sagen“ haben.

Und Macht wird spürbar, wenn die Mitschüler diese jemandem zugestehen?

Ja. Schulklassen sind dafür ideal, weil sich hier Menschen jeden Tag über viele Stunden begegnen – Schulpflicht! Rund ein Drittel der Population strebt Studien zufolge nach Macht. Das ist erstmal nicht negativ – sonst hätten wir ja keine Führungskräfte…

MechthildSchaefer

Mechthild Schäfer

Es gibt gute Führungskräfte und solche, die ihre Macht ausnutzen…

… und Kinder probieren aus, was geht: zum Beispiel wie es ist, allen auf der Nase rumzutanzen. Es sind übrigens nicht die Kinder Täter, die es besonders schwer haben zu Hause. Eher solche, die zu Hause gelernt haben, dass sie sich durchsetzen sollen. Wir haben festgestellt, dass es Kindern, die andere ausgrenzen, auch im sonstigen Leben nicht an Empathie fehlt. Aggressives Verhalten ist einfach wahnsinnig attraktiv…

Warum?

Weil es so schnell geht und so oft zum Erfolg führt. Es ist ein wunderbares Belohnungssystem, wenn sich niemand wirklich dagegen stellt. Ältere manipulieren Gruppen oft sehr strategisch, weil sie wissen, dass es Aufmerksamkeit und Popularität (nicht Beliebtheit) garantiert.

Gibt es in jeder Klasse Mobbing?

Nein. In einer Klasse wird gemobbt, in einer anderen nicht. Es gibt auch keine klassischen Opfertypen, wie oft geschrieben wird. Mag sein, dass gewisse Faktoren wie Schüchternheit Mobbing begünstigen, aber „das Opfer“ gibt es nicht. Wer in der einen Klasse zum Opfer wird, würde in einer anderen eine unbeschwerte Schulzeit erleben. Entscheidend ist die Dynamik in der Klasse wo niemand zurückgelassen wird. Dafür ist es gut, wenn Lehrerinnen und Lehrer sensibilisiert sind, was Gruppe mit allen Wechselwirkungen bedeutet.

Hat die Corona-Pandemie das Phänomen verstärkt – weil Kinder gar nicht in ihren neuen Klassen ankommen konnten und Lehrer nicht sehen konnten, was die Kinder hinter den Masken bewegt?

Wir wissen das wissenschaftlich noch nicht. Aber die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung braucht die Symmetrie unter Peers. Möglicherweise wissen jetzt viele das soziale Miteinander mehr zu schätzen. Kindern und Jugendlichen hat die Beziehung zu Gleichaltrigen besonders gefehlt: Das Unter-einander-Sein allein lehrt viel, was Erwachsene nicht ersetzen können.

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Cybermobbing ist eine neue Form von Mobbing, ein zusätzliches Werkzeug für Mobber. Es findet aber ohne Entsprechung im echten Leben kaum statt – berichten die Mitschüler. Nur Täter, die alle verfügbaren Strategien der Machtdemonstration anwenden, sind wirklich erfolgreich - in den Augen der Mitschüler.

Mobbing gab es immer, weil der Mensch in festen Gruppen so ist, wie er ist - ist es mehr geworden?

Mobbing gab und gibt es überall, wo es Gruppen gibt, die langfristig zusammen sind. Kinder und Jugendliche können sehr gut abschätzen, wie Mobbing läuft und wie es wirkt – sie sind die Experten in der Klasse. Was sich möglicherweise verändert, ist die Tendenz, ob jemand eingreift, wenn die Sache aus dem Ruder läuft. Kinder und Jugendliche, die mobben, brauchen ein klares Nein, Zivilcourage als Gegenstück zur Verantwortungsdiffusion. Und es braucht Prävention, damit Mobbing weniger wahrscheinlich wird. Aufmerksamkeit und Verstehen, wie Mobbing funktioniert, könnte da wahre Wunder bewirken.

Prof. Dr. Mechthild Schäfer arbeitet am Department für Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Ihre Forschung konzentriert sich auch Themen wie Beziehungen im Kindes- und Jugendalter, Aggression und Mobbing in Schulklassen als Gruppenphänomen. Sie berät Tom Lehels Anti-Mobbing-Stiftung und sein Programm „Wir wollen mobbingfrei!“

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