Köln – Salomon de Schrevel war in Gedanken schon in Palermo, als er am Dienstagnachmittag an der Haltestelle Dellbrücker Hauptstraße auf seine Straßenbahn wartete. Er war beim Zahnarzt und wollte zurück in die Stadt, am Nachmittag ging sein Flug nach Sizilien. „Auf einmal kam so eine alte Bimmelbahn angefahren, ganz langsam“, erzählt der 31-Jährige. „Aber da war kein Fahrer drin.“ Zuerst habe er gedacht, der Fahrer habe sich vielleicht gerade gebückt. „Aber da tauchte niemand auf – die Bahn war komplett leer.“ Während er dem Geisterzug noch verwirrt hinterherguckte, kamen zwei Männer auf den Gleisen angelaufen, außer Atem, immer der führerlosen Bahn nach. Doch Finchen – so heißt das historische Fahrzeug – war schneller. Erst kurz vor der Haltestelle Dellbrücker Mauspfad war die Flucht der Strßanebahn beendet. Fast zwei Kilometer hatte sie führerlos zurückgelegt, bis sie in einer Kurve von selbst zum Stehen kam.
Nach zwei Kilometern gestoppt
Zuvor war die Bahn des Baujahres 1911, die seit 1914 in den Diensten der Kölner Verkehrs-Betriebe steht, führerlos über die Otto-Kayser-Straße und die Dellbrücker Hauptstraße hinweg gefahren. Purer Zufall, dass es weder zu einem Unfall kam noch jemand verletzt wurde. Die Schranken schlossen sich verzögert, die Ampeln schalteten aber durch die automatische Vorrangschaltung an beiden Kreuzungen auf Rot, so dass die Autos stoppen mussten.
„Die Bahn ist ohne Fahrer über die Kreuzung gerollt. Die Schranken waren nicht geschlossen, und kurz zuvor ist noch eine Frau mit ihrem Fahrrad über die Kreuzung gefahren“, erinnert sich Maria Tossiou, Inhaberin des Kreta-Grills direkt an der Haltestelle Dellbrücker Hauptstraße. „Später haben wir gescherzt, die alte Dame Finchen hätte Alzheimer.“ Zuvor habe sie die Bahn schon zweimal an der Kreuzung vorbeifahren sehen. „Beide Male aber mit zwei Fahrern. Da war sonst keiner drin.“ Es sei normal, dass die Bahn von diesen zwei Fahrern regelmäßig bewegt werde. „Die beiden kamen ein paar Minuten später hinterher gerannt“, sagt Tossiou.
„Wir sind erschrocken, dass das passieren konnte“, sagte KVB-Sprecher Franz Wolf Ramien. Die Bahn sei von einer geschlossenen Gesellschaft gebucht worden, wie das im Jahr häufiger der Fall sei. Warum sie sich nach Abschluss der Fahrt im Straßenbahnmuseum Thielenbruch selbstständig machen konnte, werde nun eingehend untersucht. „Finchen wird nur von wenigen ganz erfahrenen Straßenbahnern gefahren.“ Es gebe mehrere Möglichkeiten, warum die Bahn führerlos losgerollt sei. „Wir werden die Ursachen analysieren und am Mittwoch hoffentlich mehr sagen können“, so der KVB-Sprecher. „Bei einem modernen Stadtbahnwagen ist eine solche Fahrt ausgeschlossen.“ Aber auch das betagte und führerlose Finchen hätte laut Ramien zwangsgebremst werden müssen, sobald es ein rotes Signal passiert hat.
Die Bahn werde jetzt „auf Herz und Nieren getestet“ und bleibe bis auf weiteres im Straßenbahn-Museum. Von dort hatte sie sich am Dienstag gegen 12.45 Uhr in Bewegung gesetzt. Der 70-jährige Fahrer, der lange bei der KVB angestellt war, hatte gerade eine Gruppe Gäste aussteigen lassen. Als er von der Toilette kam, rief ihm ein Kollege zu: „Deine Bahn fährt weg!“ Die Männer liefen hinterher, aber Finchen hatte auf der abschüssigen Strecke leichtes Spiel. „Wir vermuten, dass Druckluft aus dem Bremssystem entwichen ist“, sagte ein Mitarbeiter des Museums, als der Zug wieder an seinem Platz stand. Er arbeitet seit 53 Jahren für die KVB, seit einigen Jahren im Museum. „Aber ich kann mich nicht erinnern, dass so etwas schon einmal passiert ist.“ Die Polizei ermittelt nun die Ursache. „Wir gehen auch von einem technischen Defekt aus“, sagte ein Sprecher. Finchen selbst überstand die Fahrt ohne jeden Kratzer. Was gut ist, denn die Bahn sei, so KVB-Sprecher Ramien, „das geliebteste Fahrzeug der KVB“.