Nachruf auf Alessandro MinottiWeiße Trüffel vom Dottore

Das Restaurant war sein Lebenstraum: Alessandro Minotti im Grande Milano
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Köln – Er war so froh, wieder zu Hause zu sein. Um die Weihnachtszeit war er mit Hella nach Mailand geflogen, um seine erwachsenen Kinder zu besuchen. Kurz vor Silvester kehrten sie zurück, den Jahreswechsel wollten sie in seinem Restaurant feiern – dem „Grande Milano“ am Hohenstaufenring. So viele Jahre hatte er darauf warten müssen, sich den Traum eines eigenen Lokals zu erfüllen – damals noch am Friesenwall. Längst war es zu seinem Zuhause geworden. Und so betrat er das Grande Milano am 30. Dezember 2014 mit dem glücklichen Gefühl, zurück zu sein. Er kontrollierte die Küche, die Speisekammer, die Theke – so wie er es immer tat.
Dann setzte er sich – auf den Stuhl, auf dem er immer saß. Ein Platz am zentralsten Tisch in dem kleinen Vorraum, der rechts vom Flur abgeht, dort wo die Bar ist, mit Blick auf die Terrasse. Er bestellte einen Espresso. Und wartete. Ob er in diesem Moment noch einmal sein Leben vor sich sah? Seine Kinder in Italien, die ungeliebte Studienzeit, die zufällige Begegnung mit Hella? Wie alles irgendwie doch die richtige Richtung genommen hatte?
Hella Krause sitzt an dem Tisch, an dem ihr Mann saß, bevor ihn das Leben verließ. Verheiratet waren sie nie, hatten es „einfach nicht geschafft“, sagt sie. Gästebücher, vergilbte Zeitungsseiten und Artikel liegen vor ihr auf dem runden Tisch, Fotos bewahrt sie in einem schwarzen Schuhkarton auf, über die Jahre ist er ausgeleiert.
Alessandro Minotti hat das Grande Milano zum Szene-Lokal gemacht. Bis zuletzt stand er jeden Tag in der Küche, erledigte jeden Einkauf selbst. Es machte ihm Spaß, die Regalreihen des Großhandels nach neuen Produkten zu durchforsten. Dass die Promis bei ihm ein und aus gingen, war „einfach so passiert“, sagt Krause und nimmt ein Gästebuch zur Hand. Sie beginnt zu blättern, einige Seiten hat sie mit Zetteln markiert: Howard Carpendale, Claude-Oliver Rudolph, Bernd Eichinger, Bushido oder Prinz Amyn Aga Khan, den Alessandro Minotti nur an der Unterschrift auf seiner Kreditkarte erkannt hatte. Die „Tartufo Bianco“, die weißen Trüffel, hatten sich rumgesprochen. Minotti war einer der ersten gewesen, der den Kölnern die Delikatesse servierte. Von Anfang an, knappe 30 Jahre lang, ließ er sich den Edelpilz vom selben Händler aus Italien liefern, servierte ihn zu klassischen Gerichten wie Nudeln oder Risotto. Gekocht wurde frei Schnauze – das, was er von seiner Mutter kannte. An Rezepte hielt sich Alessandro Minotti nicht. 500 Gramm hatte sein größter Trüffel gewogen, auf einem gerahmten Foto im Eingangsbereich des Restaurants hält er ihn lächelnd in die Kamera. Ein Bild, verknüpft mit einer Geschichte, die er gerne erzählte – weil er zu denen gehörte, die sich auskannten, das konnte er von sich behaupten. Ein englischer Gastronom hatte einst einen ähnlich großen Trüffel für viel Geld ersteigert und in seinen Tresor gelegt – dort verschimmelte der Pilz. Minotti wusste es besser: Eingewickelt in Küchenpapier lagerte er die Knollen im Kühlschrank.
Auch Erika Berger kam 1993 wegen der Trüffel. „Wir haben viel getratscht“, erzählt sie, „er hat mir immer von Mailand erzählt.“ Mit der Hand streicht sie Hella Krause immer wieder über den Arm. Alessandro Minotti war stolz darauf, ein Mailänder zu sein. Als Italiener bezeichnete er sich nie. Erika Berger befreundete sich mit dem Paar, reiste 2010, zu seinem 80. Geburtstag, gemeinsam mit ihnen in die Stadt, die Minotti so sehr liebte. Sie spazierten über den Trödelmarkt am Hafen und tranken Campari – in der Geburtsstätte des Aperitifs, der Bar „Camparino in Galleria“ am Domplatz, dort wo jede seiner Reisen in die Heimat begonnen hatte.
1987 kam Alessandro Minotti aus der Schweiz nach Deutschland, um seiner Leidenschaft nachzugehen: dem Kochen. Es war ein Neuanfang. Die Laufbahn des Kochs hatte sein Vater, ein Eisenwarenfabrikant, nicht für ihn vorgesehen. Alessandro sollte die Gießerei irgendwann übernehmen, so wie es üblich war. Und so studierte Minotti Chemie und Metallurgie, machte seinen Doktor und arbeitete zunächst im väterlichen Betrieb, bevor er Italien 1970, nach dem Scheitern seiner Ehe und dem Tod seines Vaters, für eine Anstellung in der Schweiz verließ. Seine Kinder Clara und Piero blieben in Italien. Doch schon bald musste die Fabrik für Metall-Haushaltswaren Konkurs anmelden und Minotti verlor sein Vermögen – er hatte es in Aktien der Firma investiert. Ein Rückschlag in Minottis Leben.
Und ein Wendepunkt. Er ging nach Köln. Die Stadt, sagte er häufiger, sei wie Mailand, „nur etwas kleiner“. Hier werde nach der Arbeit genauso gern gefeiert, gelebt und genossen. Drei Jahre lang arbeitete er im Team mit 15 anderen Köchen, bevor er seinen Traum verwirklichen konnte und das Grande Milano am Friesenwall 90 eröffnete – begleitet von der Presse. Die Geschichte vom italienischen „Dottore“, der sich seinen Kindheitstraum in Köln erfüllte, wollte erzählt werden. Berichte, die er ausschnitt und die heute an seinen Mut und seinen Ehrgeiz erinnern. Im März 1993 zog es ihn dann mitsamt des Restaurants an den Hohenstaufenring.
Alessandro Minotti wusste, was er wollte. Sein Wunsch war Realität geworden. Deswegen sollte alles perfekt sein. Das bekamen auch seine Mitarbeiter manchmal zu spüren. Und Hella. Doch sie alle wussten, wie er tickte. Dass er auch zum Pingel werden konnte, dass er einfach „alles sah“, sagt Hella Krause: Wenn auf der Terrasse ein Baum schief stand, eine Tischdecke nicht gerade hing oder die Schürzen der Kellner Flecken hatten. Ob in der Küche oder bei den Finanzen – Alessandro Minotti behielt immer die Kontrolle, „es musste so sein, wie er es wollte“. War er im Ausland, überließ er die Geschäfte nur ungern der Belegschaft. Nicht, weil ihm das Vertrauen fehlte. Nein, er hatte einfach gern alles selbst im Blick, das italienische Restaurant war sein Lebenswerk. Auch Erika Berger erinnert sich: „Mir hätte er die Pfanne an den Kopf gehauen, wenn ich unter ihm gekocht hätte“. Denn Minotti konnte auch „brüllen, er war eben ein Löwe“, sagt Krause. „Einmal am Tag. Danach hatten wir Ruhe.“
Hella Krause und Alessandro Minotti sprachen nie über den Tod. „Obwohl wir wussten, dass wir keine 16 mehr sind“, sagt Krause. Er hatte das Lokal gerade eröffnet, da trafen sie sich – an der Bar des „Big Ben“. Und sie versuchten es miteinander. „Wir waren ja beide allein“, sagt Hella Krause, ein bisschen so, als hätte die Liebe am Anfang keine Rolle gespielt. 30 Jahre lang waren sie ein Paar gewesen, beim Spaziergang hatte er noch immer ihre Hand gehalten. Jetzt wollten sie das Leben noch einmal genießen. Sie hatten darüber nachgedacht aufzuhören, in den Ruhestand zu gehen.
Der 30. Dezember zerstörte diesen Gedanken – unerwartet und viel zu schnell, auf seinem Stammplatz, in seinem Lokal. „Ein Löwe stirbt eben nicht einfach so“, sagt Hella Krause. „Da muss auch der Tod etwas besonderes sein.“