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Nachruf auf Heinz Martin LonquichWas er sah, wurde zu Musik

Lesezeit 7 Minuten

Köln – Am Abend vor dem Tag, an dem sich sein Leben veränderte, hatten Heinz Martin Lonquich und seine Frau Hildegard wie immer das Weihnachtskonzert des Leipziger Thomanerchors im Fernsehen geguckt. Der Chor und die Solisten waren so gut wie nie, die Schönheit der Musik hatte sie tiefer berührt als je zuvor. Es war ein besonderer Heiligabend, vor zwei Jahren, im Dezember 2012.

Am ersten Weihnachtstag ging Heinz Martin Lonquich abends in die Kirche, um die Messe auf der Orgel zu begleiten.

Es waren Nachbarn, die Hildegard Lonquich benachrichtigten. Spaziergänger hatten ihren Mann auf den Stufen vor der Haustür gefunden. Bei seiner Rückkehr von der Kirche war Heinz Martin Lonquich im Dunkeln gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen. Er hatte eine Hirnblutung. Im Krankenhaus erinnerte er sich zunächst an nichts, irgendwann konnte er mit Mühe seinen Namen sagen.

Später, in der Reha, habe ihr Mann manchmal nicht mehr gewusst, wie viele Kinder er hat, sagt seine Frau. „Aber die Musik, die ist geblieben.“ Er ließ sich im Reha-Zentrum zum Klavier bringen, und dann spielte er. Mozart. Bach. Dabei mochte er das Auswendigspielen eigentlich nicht so gerne.

Heinz Martin Lonquich

geboren:

23. März 1937, Trier

gestorben:

23. Juli 2014, Köln

Es war nicht das erste Mal, dass Lonquich dem Tode nah war. 1989 wurde ein Tumor in der Niere festgestellt. Seit der Operation durfte er nicht mehr schwer heben. „Auf Reisen war ich der Gepäckträger“, erzählt seine Frau. „Aber das hat mir nichts ausgemacht.“ Sie war ja schon immer die bewegliche, kraftvolle, sportliche Hildegard gewesen.

Martin war ganz anders. Ein scheuer, sensibler Feingeist und schon als Kind wie besessen von Musik. In Gotha, wohin die Familie von Lonquichs Geburtsort Trier während des Krieges umgesiedelt wurde, entdeckte der kleine Martin im Kindergarten ein Klavier. Und war nicht mehr davon fortzubekommen. Seine Familie hatte wenig Geld, trotzdem finanzierten die Lonquichs ihrem Sohn Klavierstunden. Sein Talent sollte nicht verloren gehen. Ein Talent, das die Kindheit und Jugend von Lonquich bestimmte. Der Musik war alles untergeordnet.

Für den eigenen Körper fehlte ihm das Gefühl

Er war zehn, da schickte die Mutter ihn in den Garten. Sie verbot ihm, etwas mitzunehmen, worauf er schreiben konnte. Ein paar Stunden sollte ihr Sohn mit den anderen Kindern spielen und nicht komponieren. Martin schmuggelte trotzdem ein winziges Stück Papier und einen Bleistiftstummel mit nach draußen, um die Melodien aufzuschreiben, die durch seinen Kopf schwirrten. Er konnte nicht aufhören.

Auch später nicht. Alles, was er sah und erlebte, wurde zu Musik. Bis tief in die Nacht saß Lonquich oft an seinen Kompositionen. Über 350 Werke entstanden, Klavier- und Kammermusik, Chorstücke, Sologesang und geistliche Musik. Die Gesundheit litt. Für den eigenen Körper fehlte ihm das Gefühl, er spürte nicht, wann es ihm zu viel wurde.

2002 wurden Metastasen in der Bauchspeicheldrüse entdeckt, eine weitere Operation folgte. Zwei Jahre später war der Tumor wieder da. „Die Ärzte hatten ihn aufgegeben“, sagt Hildegard Lonquich. Sie begann, ihren Mann mit alternativen Heilmethoden zu behandeln. Der Tumor verkleinerte sich. Die Ärzte konnten es nicht fassen. Für Hildegard Lonquich war es nur logisch. „Ich hatte ein besonderes Gefühl für Martin“, sagt sie.

Das erste Mal getroffen haben sich Martin und Hildegard 1956, im Jugendhaus von Maria Laach. Es war die 800-Jahrfeier des Klosters. 19 Jahre war Martin damals alt, sie drei Jahre älter. Er hatte ein kleines Orchester gegründet, mit dem er die Kloster-Feierlichkeiten unterstützte. Im Jugendhaus saß er am Klavier und spielte, und Hildegard fand es unglaublich.

Er richtete all seine Energie auf die Musik

Das war ihre erste Begegnung. Eine Liebe war es noch nicht. Nachdem sie beide aus Maria Laach abgereist waren, schrieb Hildegard ein Gedicht für Martin. Ihre Adresse gab sie nicht an. Ein paar Wochen später kam dennoch eine Antwort. Über Bekannte hatte Martin Hildegards Adresse herausgefunden. Er arbeitete da bereits in Münster, als Korrepetitor und Kapellmeister, sie wohnte in Frankfurt. Sie schrieben sich weiter. Im nächsten Jahr an Ostern trafen sie sich wieder in Maria Laach.Geheiratet haben sie 1959, im Taunus, Hildegards Heimat. Sie zogen nach Braunschweig, bekamen drei Söhne. 1965 gingen sie nach Köln, wo Lonquich einen Lehrauftrag für Repetition an der Musikhochschule erhielt.

Die Kindererziehung war Hildegards Aufgabe. Sie organisierte den Haushalt, kümmerte sich um Musik- und Textrechte und hielt ihm den Rücken frei. 1971 bekam Heinz Martin Lonquich eines der begehrten Stipendien der Villa Massimo in Rom, wo er ein Jahr mit der Familie leben und sich ohne Sorgen seiner Arbeit widmen konnte. Nach der Rückkehr begann Lonquich, in der Gemeinde St. Nikolaus in Köln-Sülz als Organist auszuhelfen, erst nebenbei, dann immer öfter, zusätzlich zu seiner Arbeit als Repetitor. Später machte er die Ausbildung zum Diakon, vollzog Beerdigungen und Taufen.

Nicht wenige Weggefährten nahmen ihm die Hinwendung zur geistlichen Musik übel, darunter auch einige aus der Gruppe 8, einer Verbindung Kölner Komponisten, der Lonquich angehört hatte. „Kann Martin nicht wieder einen vernünftigen Beruf annehmen?“ fragte ein Freund aus der Gruppe 8 Hildegard noch Jahre später.

Eine Zeit lang versuchte Heinz Martin Lonquich beides. Spielte Orgel in der 8-Uhr-Messe, bevor er um 10 Uhr zu einer Opernprobe fuhr. In der Nacht davor hatte er oft noch bis vier Uhr komponiert. Er unterrichtete an zwei Tagen in der Woche an der Musikhochschule, vollzog an drei Tagen Beerdigungen. „Er hat nie gespürt, wo seine Grenze war“, sagt seine Frau. Vielleicht, weil es für ihn diese Grenze gar nicht gab.

Nach dem Tod ihres Mannes hat Hildegard Lonquich die Wohnung umgeräumt. Trotzdem erinnert sie alles an Martin. Das Klavier in der Ecke. Die Bilder an der Wand. Die vielen Bücher. „Dabei habe ich Alexander schon 19 Bücherkisten mitgegeben.“ Alexander ist der älteste Sohn. Auch er wurde Musiker, feiert als Pianist Erfolge. Konkurrenz zwischen Vater und Sohn gab es nie. „Manchmal frage ich mich, ob die Kinder nicht zu brav waren“, sagt Hildegard Lonquich.

Sie hatten ihren Vater oft teilen müssen, mit der Musik und mit vielen Menschen in der Gemeinde. „Du lässt uns doch nicht im Stich?“, fragten die Mitglieder des Kirchenchors, nachdem Lonquich dort ausgeholfen hatte. Er tat es nicht. Die Arbeit mit dem Chor war genauso wichtig für ihn wie all seine anderen Berufe. Eine Hierarchie der Musik gab es für ihn ohnehin nicht. „Er hat Kompositionen für einen Kinderchor ebenso ernst genommen, wie die für ein großes Oratorium“, sagt Maria Braun, eine Freundin der Familie und Mitglied im Shalom-Chor, den Martin Lonquich 1974 gründete. „Alles war Freude für ihn.“

Nach der Krebsdiagnose sah er jeden Tag als Geschenk. Er fragte sich nie, wie krank er war. Stattdessen richtete er all seine Energie auf die Musik, komponierte, so viel er konnte. So lange die Musik da war, war alles gut. Erst in den letzten Monaten seines Lebens verschwand die Musik langsam. Lonquich hatte sich an der Schulter verletzt und war falsch behandelt worden. Danach konnte er nicht mehr stehen, nicht mehr sitzen und nicht mehr komponieren. Die Musik, die Kraftquelle seines Lebens, entglitt ihm.

Maria Braun erzählt, wie der Shalom-Chor ihn an seinem letzten Geburtstag besuchte. „Martin hatte einen ganz hellen Moment, er sprach mit uns allen.“ Und verabschiedete sich. Er wusste, sie würden sich nicht wiedersehen. In den letzten Tagen hatte er die Augen oft geschlossen. Das Schauen war anstrengend geworden, die Kraft reichte nicht mehr für alle Sinne. Kurz vor dem Ende kam ein alter Freund noch einmal zu Besuch und trat leise an sein Krankenlager. „Wie schön, dass du da bist“, sagte Heinz Martin Lonquich mit geschlossenen Augen. „Das Zimmer wird ganz hell.“