Wolfgang Niedecken im Interview zum BAP-Album „Lebenslänglich“„So viel Zeit bleibt dann auch nicht mehr“

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Wolfgang Niedecken beim Interview in seinem heimischen Wohnzimmer in Köln.

Wolfgang Niedecken beim Interview in seinem heimischen Wohnzimmer in Köln.

Herr Niedecken, das neue Album trägt den Titel „Lebenslänglich“. Ging es leicht von der Hand?

Am Anfang war ich etwas verkrampft. Ich war nach der Tour in der Türkei, um mich zu erholen und ein paar Texte zu schreiben, aber irgendwie fiel mir überhaupt nichts ein. Erst auf dem Rückflug nach Köln lief es auf einmal – da habe ich noch im Flugzeug die letzte Zeile zum ersten Lied geschrieben. Und dann war es wie im Schlaraffenland. Ich habe noch nie 14 Stücke in so kurzer Zeit geschrieben.

Nach dem Schlaganfall wollten Sie es ja insgesamt etwas ruhiger angehen lassen ...

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Gute Idee. Aber das Musikmachen ist ja nicht das Problem, sondern das, was zwischendurch an Organisatorischem anfällt.

Was hat sich denn überhaupt für Sie seit dem Schlaganfall im November 2011 verändert?

Ich bin entschiedener geworden. Weil ich weiß: So viel Zeit bleibt dann auch nicht mehr. Ich muss Entscheidungen schneller fällen. Ich war vorher jemand, der sagte: Komm, das kriegen wir schon irgendwie geregelt. Das hat sich geändert. Ich sage jetzt öfter mal: Cut – das geht nicht mehr. Das ist eine neue Qualität. Aber mir bleibt auch nichts anderes übrig.

Es gibt auf dem neuen Album den Song „Auszeit“, der davon handelt, einfach mal abzutauchen, wenn die Reserven aufgebraucht sind.

Damit ist der Moment gemeint, in dem man weiß: Ich bin am Ende meiner Kräfte angekommen. Wenn ich so weitermache, fange ich an durchzudrehen und mache etwas, was ich nicht will. Dann zu sagen, ich ziehe mich zurück, auch wenn drum herum alles in die Hose geht – das schaffe ich mittlerweile. Ich lasse mich ja auch schon lange nicht mehr vor einen Karren spannen – den suche ich mir schon selber aus. Und ich passe auf, dass ich mich bei all den Anfragen, die da kommen, nicht inflationiere.

Wobei es ja Anlässe genug gibt, sich zu äußern. Nehmen wir nur die Flüchtlingskrise ...

Wir müssen darauf achten, dass das Land nicht gespalten wird, obwohl wir ja alle nicht wissen, wie das mal enden wird. Aber wir wissen auch, wozu wir erzogen worden sind. Da kann man sich alle Sankt-Martins-Züge, Krippenspiele und Sonntagsreden sparen, wenn man jetzt nicht den tatsächlich Notleidenden hilft. Die Leute in Syrien fliehen ja nicht, weil sie in Europa mehr Geld verdienen wollen, sondern die fliehen vor einem Krieg. Die würden viel lieber in ihrer Heimat bleiben.

Lesen Sie im nächsten Abschnitt, ob Niedecken nach seinem Schlaganfall bewusster lebt als davor.

Leben Sie heute bewusster als vor dem Schlaganfall?

Auf jeden Fall. Das ist ja kein schöner Gedanke vor der Narkose gewesen: Hoffentlich wirst du überhaupt noch mal wach. Und umso schöner, wenn du dann aufwachst und merkst: Es gibt noch eine Zugabe. Wunderbar. Bei mir war es ja so, dass ich in beiden Fällen, vor und nach der Narkose, dasselbe Bild vor Augen hatte: Meine drei Damen am Krankenhausbett.

Die Ehefrau und die beiden Töchter! Auf dem neuen Album gibt es ja auch die Zeile, dass nun kein Moment mehr versäumt werden soll.

„Zeitverschwendung“ ist ein Liebeslied an meine Frau. Ich bin darauf gekommen, als wir in Osnabrück in einem Hotel übernachtet haben, das nach Erich Maria Remarque benannt ist. Da habe ich mich an seinen Roman „Die Nacht von Lissabon“ erinnert, der mich damals ziemlich bewegt hat. Mein Gott, was haben wir für ein Schwein, dass uns so was erspart bleibt. Und dann halt wieder dieses tolle Gefühl, jemanden zu haben, mit dem man gerne zusammen alt werden will.

Es gibt eine Neigung auf dem neuen Album, Dank zu sagen – der Ehefrau, dem ehemaligen Schlagzeuger und auch einer ehemaligen Freundin. Steigt dieses Bedürfnis mit den Jahren?

Kann schon sein. Nun habe ich aber auch die wunderbare Gelegenheit, auf diese Weise danken zu können. Ich würde ja niemals meine Sandkastenliebe anrufen und sagen: Hör mal, das war alles halb so wild und übrigens danke schön, dass wir uns dermaßen aneinander abgearbeitet haben.

Wie lange ging das denn so?

Elf Jahre. Sie wollte ihre Freiheit genießen, und ich habe geklammert. Ich war eindeutig der Idiot in diesem Fall. Aber das geht einem erst sehr viele Jahre später auf, mit etwas mehr Lebenserfahrung. Im Fußball und in der Liebe wird Klammern mit der Gelben Karte bestraft – und wenn du es zweimal machst, fliegst du vom Platz.

Alles in allem fühlen Sie sich, nimmt man das Album zum Maßstab, ganz gut aufgehoben. Da heißt es ja: „Der Herrjott meint et joot mit mir“.

Das ist ein fester Spruch in unserer Familie. Ich bin ja so was wie „restkatholisch“. Das wird mir immer mehr bewusst. Es gibt so etwas wie ein genetisches Gedächtnis. Das hat man mit Hirschen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze erforscht. Denen wurden Chips eingepflanzt – und die Ostzonen-Hirsche und die Westzonen-Hirsche gehen noch heute nur bis zu der Linie, wo einst die Grenze verlief. Ziel der Forschung ist herauszufinden, wie viele Generationen es braucht, ehe das nachlässt. Da kann ich Rückschlüsse auf mich ziehen: Ich stamme aus einer erzkatholischen Winzerfamilie, mein Vater war streng katholisch – und ich entdecke an mir Verhaltensweisen, die mich stark an meinen Vater erinnern. Die habe ich jetzt endlich mal akzeptiert.

Also auch das mit dem katholischen Glauben?

Ich bin kein Atheist. Ich weiß aber nicht, woran ich glaube. Ich halte weiß Gott wie viel für möglich. Aber im Zweifel bin ich dann doch zu 51 Prozent gläubig.

Der Song „Absurdistan“ endet sogar mit einem „Kyrie eleison“.

Auf dem Demo für den Song hat Anne de Wolff am Ende irgendetwas Kirchenchormäßiges gesungen. Da kam ich dann auf dieses „Kyrie eleison – Gott erbarme dich“. Das passt natürlich fantastisch. Mit dieser Stelle bin ich extrem happy: In einem Rocksong kommt ein Kirchenlied vor, ohne dass es aufgesetzt wirkt.

Lesen Sie im nächsten Abschnitt, ob Niedecken nach den Anschlägen in Paris darüber nachgedacht hat, nicht mehr öffentlich aufzutreten.

Der Song selbst ist eine zornige Abrechnung mit vielen aktuellen Übeln. Haben Sie nach den Anschlägen von Paris, zumal nach dem Anschlag auf das Konzert der Eagles of Death Metal im Bataclan, darüber nachgedacht, nicht mehr öffentlich aufzutreten?

Nein. Natürlich denkt man mehr als einmal über diesen fürchterlichen Anschlag nach. Das ist ja alles eine ganz neue Qualität für uns. Bislang konnte man meistens noch wegzappen, wenn man die Bilder nicht mehr aushielt. Aber jetzt – jetzt ist der Terror bei uns im Alltag angekommen. Gleichzeitig muss unser Leben weitergehen. Wir können uns doch unseren liberalen Lebensstil nicht von den Terroristen nehmen lassen. Klar ist: Da hat sich was verändert. Übrigens auch – wenngleich das nun wirklich nebensächlich ist – beim Kartenverkauf. Die Leute überlegen jetzt zweimal, ob sie ein Konzert tatsächlich brauchen.

Die Tournee zum neuen Album beginnt Mitte Mai. Da ist dann Niedeckens BAP unterwegs – so hieß die Band nur bei den ersten drei Alben, danach über Jahrzehnte BAP.

Nach dem letzten Soloalbum und dem nachfolgenden Live-Album, das folgerichtig auch schon unter Niedeckens BAP lief, war jetzt die Gelegenheit günstig, die Dinge so zu nennen, wie sie tatsächlich sind: Das ist eben Niedeckens BAP.

Auch weil die Band nicht mehr wie zu Beginn ein eingeschworener Trupp aus Köln ist?

Eingeschworen schon, aber heute sind das alles Profis, die auch in anderen Formationen spielen. Wir leben alle in verschiedenen Städten. Zwei wohnen in Berlin, zwei in Hamburg, einer lebt im Bergischen Land, und ein anderer ist weltweit unterwegs. Mittlerweile tauschen wir unsere Ideen in der Dropbox aus. Man muss sehr viel und sehr weit im Vorfeld koordinieren, wenn man als Band etwas machen will – das war mal anders. Darüber musste ich kürzlich nachdenken: Wann fing das eigentlich an? Das war vor der „Ahl Männer, aalglatt“-Tour von 1986, als Jan Dix ausgestiegen war und für ihn der Londoner Drummer Pete King kam. Seitdem ist das Tor geöffnet.

Mit dem Gitarristen Helmut Krumminga und dem Schlagzeuger Jürgen Zöller sind zwei zentrale Musiker der letzten Jahrzehnte nicht mehr an Bord. Was macht das mit der Musik?

Es verändert sich schon etwas. Jürgen Zöller ist vor allen Dingen ein Bauch-Schlagzeuger, der sich nicht immer ans Arrangement hält. Der spielt die Stücke bei jedem Auftritt anders. Ich finde das toll und habe immer unglaublich gerne mit ihm gespielt.

Lesen Sie im nächsten Abschnitt, warum Helmut Krumminga die Band verlassen hat.

Der Song „Schrääsch hinger mir“ erzählt von dieser Beziehung – allerdings gibt es darin kein Schlagzeug.

Alle im Studio haben gesagt: Nee, da darf jetzt keiner trommeln. Der Jürgen hat viele, viele Jahre lang bei uns im Maschinenraum gearbeitet. Jetzt ist er 68 und will mal halblang machen. Aber – reinhauen, das kann Sönke Reich auch, das steht fest. Unser neuer Schlagzeuger ist übrigens der erste BAP-Musiker, der jünger ist als die Band – der Mann ist 32, die Band ist 40!

Warum hat Helmut Krumminga die Band verlassen?

Helmut ist ein fantastischer Gitarrist, auf den ich niemals aus musikalischen Gründen verzichtet hätte. Ich will das hier nicht weiter ausführen – aber es hat menschlich einfach nicht mehr gepasst. Wir haben wunderbare Stücke zusammen geschrieben und uns toll ergänzt. Aber irgendwann musste ich einfach die Reißleine ziehen. Sehr schade.

Und die Neuzugänge?

Die machen ihre Sache hervorragend. Wenn wir ehrlich sind, brauchen wir keinen Gitarrenhelden vom alten Schlag mehr. Wir brauchen vielmehr einen Musiker, der geschmackvoll Gitarre spielt. Das konnte der Helmut, das kann aber auch Ulrich Rode hervorragend.

Mit einer Aufnahme vom fließenden Rhein fängt das Album an. Ist das gleich hier vor Ihrer Türe in Köln aufgenommen worden?

Das haben wir versucht. Aber da gab es zu viele Nebengeräusche von den Autos und von der Straßenbahn. Dann sind wir zum Weißer Bogen gegangen. Erst habe ich gedacht, der Rhein müsste schön plätschern. Aber tatsächlich haben wir dann nur ein Rauschen genommen. Ursprünglich wollten wir auch das Album mit dem Rhein ausklingen lassen.

Das letzte Live-Album begann mit dem Dom-Geläut. Jetzt gibt es das Rauschen des Rheins. Welcher Köln-Sound kommt aufs nächste Album?

Schau’n wir mal. Vier-Jahres-Pläne machen wir ja nicht.

Das Gespräch führte Martin Oehlen

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