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Stellwerk 60Autofrei – wie geht das eigentlich?

Lesezeit 4 Minuten

Besuch der japanischen Delegation in der autofreien "Stellwerk 60"-Siedlung.

Nippes – Erwartungsvoll standen die rund 25 japanischen Besucherinnen vor dem Eingang der Autofreien Siedlung am Wartburgplatz, als ihnen Hans-Georg Kleinmann vom Anwohnerverein „Nachbarn 60“ an der Orientierungstafel die Historie, Grundidee und die Eckdaten des Quartiers auf Englisch näherbrachte. Denn eine Siedlung, ganz bewusst ohne Autos geplant – das gibt es in Japan in dieser Form nicht. „Hier sehen Sie die Probleme, die wir in einer nicht-autofreien Siedlung haben“, sagte er und lachte, als sich vor der Reisegruppe – fast wie auf Bestellung – zwei Autofahrer in der engen Büdericher Straße begegneten und mühsam aneinander sowie an der Menschentraube vorbei rangierten. „Es ist eine mehr als 100 Jahre alte Straße, die natürlich nicht für den Autoverkehr geplant worden ist.“

Dann ging es endlich in die Stellwerk-60-Siedlung hinein. Fleißig Häuser und Wege fotografierend und die Eindrücke aufnehmend, ließen sich die Gäste von Kleinmann und Ralph Herbertz vom Verkehrsclub Deutschland (VCD), der im Arbeitskreis Autofreie Siedlung Köln e.V. für die Verkehrsplanung zuständig ist, durchs Viertel führen.

Stippvisite bei den Düsseldorfern

„Nippon trifft Nippes“ lautete an jenem Tag die Devise. Jährlich stattet die rein weibliche „Women’s Overseas Study Group“ aus der ostjapanischen Präfektur Ibaraki Europa einen Besuch ab. Mit dabei sind Kommunalpolitikerinnen und Mitarbeiterinnen der Verwaltung. Eine Woche lang tourten sie mit der Dolmetscherin Otgonbayar Chuluunbaatar per Bus durch ganz Deutschland. Außer der größten Autofreien Siedlung der Republik standen auch Besuche in Altenheimen an – denn für Japan, eine der ältesten Gesellschaften der Welt, sind Seniorenfragen ein wichtiges Thema. Auch ein Frauenhaus, dass einen Zufluchtsort vor häuslicher Gewalt bietet, war ein Ziel der Gruppe, zu der auch Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte gehörten.

Fukue Okoshi: Es sind bereits einige vergleichbare Projekte in Überlegung, die zwar beantragt sind, für die es aber noch keine politische Zustimmung oder gar einen Beschluss gibt. Es ist auch eine Frage der Mentalität: Viele Eltern bringen ihre Kinder noch mit dem Auto zur Schule – aber immerhin bilden sich hierfür inzwischen vielerorts Fahrgemeinschaften unter Nachbarn.

Okoshi: In Japan ist es so: Es hat zwar jeder ein Fahrrad, aber kaum jemand benutzt es im Alltag. Selbst kürzeste Strecken werden im Auto zurückgelegt, der Pkw ist das Haupt-Leitbild der Gesellschaft. Bei den Jüngeren ändert sich aber etwas, wie wir bei einer Studie in Schulen festgestellt haben. Viele Grund- und Mittelschüler zum Beispiel wollen inzwischen mit dem Rad zur Schule fahren, wenn der Weg nicht allzu weit ist, anstatt von den Eltern dorthin kutschiert zu werden – unter den 13- bis 15-Jährigen sind das schon rund 60 Prozent. Einige verwenden auch den Schulbus. Die meisten Jugendlichen steigen dennoch später auf das Auto um, sobald sie ein eigenes besitzen.

Okoshi: Es hat in den zurückliegenden 20 Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Im vergangenen Jahr startete etwa ein pädagogisches Öko-Konzept an den Schulen in unserer Präfektur. Im Rahmen dessen legen Grundschüler zum Beispiel Schulgärten an oder sammeln Pflanzen aus der Umgebung. Sie beschäftigen sich auf diese Weise mit der Natur und entwickeln Interesse, die Pflanzen beim Wachsen zu beobachten.

Das Gespräch führte Bernd SchöneckÜbersetzung: Otgonbayar Chuluunbaatar

Und selbstverständlich schaute das Team auch in der nahen japanischen Hochburg Düsseldorf vorbei. „Wir bereiten uns das ganze Jahr auf die Reise vor“, erläuterte Kyoko Hasegawa vom Referat für Frauen und Jugend der Präfektur Ibaraki in der 270 000-Einwohner-Stadt Mito.

Spielende Kinder auf der Straße

Die aufgeschlossene Gruppe staunte sehr, als ihnen die beiden Veedelsführer und Anwohnerin Ursula Forner die Besonderheiten und Vorzüge der Siedlung aufzählten. „Quasi jeder hier hat ein Rad, die Leute nutzen es jeden Tag“, so Herbertz. „Wir haben hier sogar Fahrrad-Tiefgaragen.“ Besonders den Kindern tue das autofreie Leben gut. „In Siedlungen wie diesen fangen sie früher an, sich an der frischen Luft zu bewegen, als in normalen Vierteln – weil sie es in ihrer Umgebung ungefährdet tun können. Denn es gibt ja keinen Straßenverkehr“, fasste er die Ergebnisse einer Untersuchung zu diesem Thema zusammen. Bereits im Jahr 1994 sei die Idee für autofreies Wohnen in Köln aufgekommen, doch bis zur Verwirklichung habe man noch sehr viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. „Obwohl zum Beispiel in der City weniger als die Hälfte der Bürger ein Auto hat, denken viele Planer immer noch, jeder besäße eines“, erläuterte der Verkehrsexperte den Besucherinnen.

Nach ihrem knapp zweistündigen Rundgang deckten sich die Japanerinnen im Kiosk Am Alten Stellwerk mit Snacks, Getränken und deutschen Zeitschriften ein – und nach dem Abschluss-Gruppenfoto auf dem Carsharing-Parkplatz am Eingang der Siedlung wartete der Reisebus auf die Gruppe für die Fahrt zur nächsten Station. „Es hat uns sehr gut gefallen hier, es ist sehr grün und gemütlich“, so das positive Fazit einer der Japanerinnen. Und vielleicht können sie mit ihren Impressionen aus der Siedlung bald auch ihre Landsleute begeistern.