Obdachlose, Ex-Gefangene, GescheiterteIn dieser Kölner WG lebt „der Rest der Welt“

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Michael Lehmann zeigt sein Zimmer, aus dem er bald ausziehen will. 

  • In einem Haus in Ehrenfeld wohnen junge Drogensüchtige und Straftäter ohne Schulabschluss, aber auch studierte Wissenschaftler unter einem Dach.
  • Autor Uli Kreikebaum hat das Heim der 66 Bewohner besucht und ist auf illustre Menschen wie Wolfgang getroffen, der von sich selbst sagt, er sei ein „Einbrecher auf Reisen und lustiger Vagabund“.
  • Der Besuch wirft die Frage auf: Was ist eigentlich ein „normales“ Leben?

Köln – Herr Lehmann wischt die Böden, als ginge es um sein Leben. „Zack, zack, schnell und ordentlich, der Staat gibt viel zu viel Kohle für uns Penner aus, da muss man wenigstens Leistung zeigen“, ruft er. Eine Sozialarbeiterin unterhält sich mit ihm über die Raucherecke, „ist ja nicht so nett da draußen“, sagt sie. „Die mache ich Ihnen schön,“, sagt Lehmann, „ich bin nicht umsonst Stuckateur, nächste Woche werden sie die Ecke nicht wiedererkennen, versprochen! Und jetzt: Weiter! Zack, zack!“

Michael Lehmann, wuchtig, wild tätowiert, das Herz auf der Zunge, ist einer von 66 Bewohnern des Erik-Wickberg-Hauses, wohnungslosen Männern, die aus der JVA, von der Straße oder aus der eigenen Wohnung kommen. Das Haus in Ehrenfeld sei „das Auffangbecken für den Rest der Welt“, sagt Sozialarbeiter Jochen Trella. Junge Drogensüchtige und Straftäter ohne Schulabschluss, aber auch studierte Wissenschaftler wie Peter, der eine eigene Firma für Kosmetikprodukte hatte und pleite ging, oder Torben (Namen geändert), der kurz vor einem Profivertrag beim VfL Wolfsburg stand, bevor seine Kreuzbänder im Knie rissen und er mit seinem Karrieretraum auch den Halt im Alltag verlor.

„Essen super, Zimmer in Ordnung, Duschen Driss“

Die Hecken im Garten sind penibel gestutzt, ein Schild mit Totenkopfemblem weist darauf hin, dass der frisch gemähte Rasen vor dem Café nicht betreten werden darf. „Es ist ok hier, das Essen ist super, die Zimmer sind in Ordnung, nur die Duschen sind Driss, wir duschen seit einem Jahr in Containern, weil die normalen Duschen saniert werden“, sagt Lehmann. „Und die stinken ab nachmittags. Damit musst du leben, wenn du hier bist. Nur: Wenn ich einen erwische, der seine Haare oder noch Ekligeres in der Dusche lässt, reiße ich ihm den Arsch auf.“

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Michael Lehmann beim morgendlichen Wischen der Angestelltenbüros

Das will man nicht unbedingt riskieren. Beiläufig erzählt Lehmann, dass er mehr als 20 Jahre im Gefängnis verbracht habe, zuletzt habe er achteinhalb Jahre wegen versuchten Raubs bekommen. „Als Teenager habe ich meinem Stiefvater die Knarre an den Kopf gehalten und ihm gesagt, dass ich ihn abknalle, wenn er noch einmal meine Mutter schlägt oder vergewaltigt.“ Habe der dann naturgemäß nie mehr gemacht. Der Stiefvater habe ihn mit 13 gezwungen, mit Nothämmern Autos aufzubrechen. „Ich bin deutscher Sinti, Zigeuner, das sind zu 90 Prozent Verbrecher. Vielleicht nicht 90 Prozent, aber viele. Ich bin nicht stolz darauf“, sagt Lehmann. „Aber ich versuche, mich zu ändern. Gestern habe ich auf der Venloer Straße ein I-Phone gefunden und zur Polizeiwache gebracht. Das habe ich vorher noch nie in meinem Leben gemacht. Früher hätte ich so einen Typen ausgelacht.“

Er zeigt sein Zimmer: 15 Quadratmeter buntes Leben, die Schuhe stehen im rechten Winkel zum Bett, es riecht nach Desinfektionsmittel. „Ich sprühe alles mit Alkohol ein, muss man hier“, sagt er. An den Wänden Bilder, Stillleben, ein Van-Gogh-Druck. „Wenn der echt wäre, würde ich das Haus hier kaufen und ein Puff draus machen“, kichert Lehmann.

114 Euro Taschengeld im Monat

Seit Mai 2018 lebt der 54-jährige Kölner, Vater von sieben Kindern, Großvater von sieben Enkeln, Großmutter Holocaust-Überlebende, Stiefvater Schläger, im Erik-Wickberg-Haus. „Im Gegensatz zu den meisten hier, kriege ich mein Leben einigermaßen auf die Reihe.“ Er arbeite im Haus, um sich 38 Euro Taschengeld pro Woche zu verdienen. 70 Prozent der Hartz-IV-Einkünfte der Bewohner gehen direkt an den Landesverband Rheinland (LVR), 114 Euro erhalten sie als monatliches Taschengeld. „Mal ehrlich: 110 Euro, das reicht hier keinem. Die meisten sind druff und müssen sich was organisieren“, sagt Lehmann. „Gestern hat einer für 15 Euro seinen Fernseher verkauft, weil er auf Entzug war.“

45 Jahre habe er – mit sieben Therapien und ein paar guten Phasen Pause – „geballert“. Mit 13 zum ersten Mal Heroin. „Immer wieder alles, was sich spritzen oder durch die Nase ziehen ließ.“ Wenn er nicht so gute Gene hätte – seine Urgroßmutter sei 106 geworden – „wäre ich längst nicht mehr hier“. Was er sich vorstelle für die Zukunft? „Ein normales Leben. Normale Leute. Ein kleiner Job, eine kleine Wohnung, weg von hier.“

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Sozialarbeiter Jochen Trella: „Wir müssen nicht mehr das Elend verwalten.“

Die meisten Bewohner sagen, dass sie wegwollen, erzählt Sozialarbeiter Trella. Vielleicht sagen einige das auch, weil die Gesellschaft es erwartet. Die Männer, die im Erik-Wickberg-Haus leben, hören oft, sie seien „Betroffene“, „sozial Schwache“, „Süchtige“, „Hartzer“, „Faulenzer“, „hoffnungslose Fälle“. Ich suche einen Job – Möchte eine Wohnung – Will mein Leben ändern. Das sind Formeln, die nötig sind, um bürokratische Zielvereinbarungen zu erfüllen. „Was willst Du jetzt machen? Wie gehst Du mit Deinem Elend um?“, fragen hilflos und hohl die Anteilnehmenden. Herr Lehmann sagt dann wie aus der Pistole geschossen, was die da draußen vermutlich wollen.

„Einbrecher auf Reisen und lustiger Vagabund“

Wolfgang macht da nicht mit. Als „Einbrecher auf Reisen und lustiger Vagabund“ stellt sich der 63-jährige Hamburger vor. Bis vor einigen Tagen sei er in der JVA Siegburg ansässig gewesen, nun – mal wieder – hier. „Gekommen, um vorläufig hier zu bleiben.“ Eine eigene Wohnung? „Ne, wozu? Hier habe ich ein Zimmer zum Abschließen, kriege Essen, kann duschen, habe keinen Stress, alles ok.“

Wolfgang sitzt in einem Imbiss auf der Venloer Straße, Ecke Leyendeckerstraße, und sieht mit seinem schwarzen Kaffee in der Hand und dem ruhigen Blick entspannt aus wie ein Zen-Buddhist. Eltern mit sorgfältigen Tätowierungen und Lastenfahrrädern kommen vorbei, Menschen, die gepflegt aussehen, aber nicht wie Zen-Buddhisten, auch wenn sie wahrscheinlich Achtsamkeitskurse belegen. Ihre gehetzten Blicke zeugen eher von der Sorge, zu scheitern mit dem Anspruch, ein moralisch, ästhetisch, ökologisch und sozial makelloses Leben zu führen.

„Ich bin keiner, der vor Arbeit wegläuft“, sagt Wolfgang, „aber ich hätte keine Lust, sesshaft zu werden und 40 Stunden im Büro zu sitzen.“ Er habe immer als Nomade gelebt. „Meine Eltern haben mich als Baby in einer Orangenkiste vor eine Kirche gestellt, ich bin in Kinderheimen aufgewachsen, immer wieder ausgebüchst und reise durchs Land, seit ich denken kann.“ Sein Leben enthalte nur ein Mindestmaß an Bürokratie. „Zum Arbeitsamt muss ich, um Kohle zu kriegen. Aber ich lasse mir von den Verwaltungen nicht den Tag verderben.“ Sozialschmarotzer? Sei ihm egal, wenn Leute das dächten. „Für mich ist es richtig so. Das mit dem Einbrechen würde ich mir gern abgewöhnen. Es ist so ein Kick, wie eine Sucht. Aber für den Knast bin ich langsam zu alt.“

Den Anteil der Straftäter hat Jochen Trella nicht im Kopf, mit dem Gesetz seien viele der Bewohner schon in Konflikt geraten. Ihn ficht das nicht an, er habe auch keine Angst – obwohl er vor vier Jahren die Schreie hörte, als einer seiner Kollegen im Büro schräg gegenüber von einem psychisch labilen Bewohner erstochen wurde.

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„Wir haben die Sicherheitsvorkehrungen erhöht, eine Videoüberwachungsanlage installieren lassen, gehen auch in der Regel nur noch zu zweit auf die Zimmer“, sagt Trella. „Die Tat musste ich erstmal verarbeiten. Aber ich komme damit klar, weil der Job spannend ist: Wir haben hier acht Sozialarbeiter – so können wir mit den Leuten arbeiten und müssen nicht wie vor 30 Jahren nur das Elend verwalten.“ Ziel sei es, die Männer „so fit zu kriegen, dass sie ausziehen können“. Bei Michael Lehmann sei das realistisch – bloß gebe es in Köln für Menschen wie ihn „fast keine Wohnungen“. Auch Wolfgang wäre ein Kandidat für eine eigene Wohnung – wenn er denn wollte. „Ne, lass mal“, sagt er.

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Die Videoüberwachungsanlage wurde nach einer Gewalttat installiert.

Anders als in vielen Notschlafstellen, lässt es sich im Erik-Wickberg-Haus gut leben. Der Sozialstaat, gepaart mit dem kirchlichen Träger Heilsarmee, zeigt hier, dass er dem „Rest der Welt“ ein bisschen Würde zurückgeben kann. Arbeit, eigene Wohnung, normales Leben, stehen auf einem anderen Papier. Normales Leben? Was heißt das eigentlich nochmal?  

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