Abo

Appell zum Orange Day„Wegen uns leben viele Frauen in Angst“

Lesezeit 4 Minuten
Michel Birbæk

Michel Birbæk

Der in Köln lebende Drehbuchautor Michel Birbæk engagiert sich gegen Gewalt an Frauen. Seine eigene Mutter wurde vor 31 Jahren von ihrem Ehemann ermordet. Jedes Jahr am 25. November postet er seitdem einen bewegenden Text auf Facebook. In diesem Beitrag erklärt er, warum.

Meine Mutter wurde von ihrem Ehemann umgebracht. Seit Jahren poste ich am  internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen den Text über den Mord auf Facebook. Die Reaktionen sind heftig. Mittlerweile haben hunderte Frauen über die Gewalt berichtet, die sie selber erlebt haben. Gewalt gegen Frauen ist alltäglich. Leider scheint das kaum jemand in der Politik zu interessieren.

Als ich den Text über meine Mutter schrieb, war sie schon über 20 Jahre tot. So lange habe ich damals gebraucht, um zu merken, wie wichtig solche Texte sind, weil unglaublich viele Menschen schlichtweg nicht wissen, wie viel Gewalt unsere Frauen permanent erleben – und wie diese Gewalt ihr Leben beeinflusst. Und damit natürlich auch das Leben ihrer Freunde, Partner und Kinder.

40,7 Prozent der deutschen Frauen trauen sich nachts nicht, das Haus zu verlassen, 51,7 Prozent würden nachts nie den ÖPNV benutzen. Eine solche Einschränkung der Lebensqualität kann man sich als Mann kaum vorstellen. Diese Zahlen belegen das ganz gut, was ich „indirekte Gewalt“ nenne.

Es gibt viele Statistiken über Gewalt, doch die offiziellen Statistiken haben wenig Aussagekraft, denn die reale Anzahl von Menschen, die unter Gewalt leiden, ist eklatant höher. Auch ohne direkten Bombentreffer, macht der Krieg in der Ukraine was mit uns. Auch ohne direkte analoge Konfrontation, macht der digitale Hass im Netz was mit uns. Auch ohne ausgeübte Gewalt macht die Androhung von Gewalt etwas mit uns. Und natürlich macht das Wissen der Mädchen und Frauen, dass eine 24,7 Prozent Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie sexualisierte Gewalt erleben werden, sehr viel mit ihrem Verhalten.

Indirekte Gewalt belastet uns, macht uns psychisch krank, aggressiv und treibt uns in die Sucht. Aber nicht nur das. Fatalerweise geben viele der Betroffenen ungewollt ihren inneren Stress ausgerechnet an die Menschen weiter, die sie lieben: ihre Freunde, Partner und Kinder. Zudem haben Angst und Stress extrem negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Dennoch reden wir in unserer Gesellschaft und in der Politik immer noch zu wenig über das Thema „indirekte Gewalt“. Es mangelt an allem, Aufklärung, fundierten Statistiken und Gegen-Strategien.

Leider wird auch fast 80 Jahre nach dem gewaltverherrlichenden Naziregime Gewalt in unserem Land weiterhin verharmlost. Dabei gibt es in Deutschland jährlich über 500.000 Anzeigen, alleine wegen Körperverletzung. Zudem gibt es 250.000 Straftaten gegen die persönliche Freiheit. Rechnet man da noch die 100.000 Anzeigen wegen Raub, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Mord, Totschlag, und Tötung hinzu, landen wir, wie 2021, bei fast einer ganzen Million (!) Gewalttaten, die zur Anzeige (!) gebracht werden.

Da kann man sich die Dunkelziffer ja mal hochrechnen. Dabei bitte nicht vergessen: In diesen Zahlen sind immer nur die direkten Betroffenen eingerechnet, nicht die indirekten „Opfer“ der Gewaltspirale, deren Ehen schneller geschieden werden, deren Beziehung zu ihren Kindern leidet und deren Lebensqualität minimiert wird, weil sie in Angst vor Gewalt leben. Müssen.

Viele Medien verharmlosen Gewalt in ihrer Sprache. Noch immer nennen manche Journalisten Vergewaltiger „Sex-Ferkelchen“. Morde, wie der an meiner Mutter, sind einfach eine „Beziehungstat.“ Oft heißt es auch, dass Frauen „Angst im Dunkeln“ haben. Doch Frauen haben nicht Angst vor der Dunkelheit, sie haben Angst vor Männer in der Dunkelheit. Auf Veranstaltungen können sie ihre Getränke nicht aus den Augen lassen, sie können nie per Anhalter fahren, bei Dates informieren sie Freundinnen, wo und mit wem sie unterwegs sind, sie können ihre Kleidung nicht freibestimmen, weil ein Minirock ihnen als Einladung ausgelegt wird Usw.Usw. Usw. Frauen sind permanent dabei, sich vor Gewalt zu schützen.

Gewalt geht meistens von Männern aus

Um ein Problem lösen zu können, muss man es erst verstehen. Daher ist es wichtig, dass wir Männer verstehen, dass die Gewalt meistens von uns ausgeht. Als kleiner Hinweis dazu ein paar Schlagzeilen, die man sehr selten liest: „Frau rast absichtlich in Menschenmenge…“, „Gruppe Frauen vergewaltigt 14-Jährigen…“, „Frau verfolgt Ex-Mann in den Supermarkt und ermordet ihn…“, „Frau läuft Amok...“

Wir Männer sind es, die Gewalt ausüben. Wegen uns leben viele Frauen, Kinder und natürlich auch andere Männer in Angst. Normalerweise ist mein Slogan ist „Stoppt Gewalt. Jede.“ Doch am internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen, veröffentliche ich diesen Text im Kölner Stadt-Anzeiger, und freue mich unheimlich über jeden männlichen Leser, der das liest und sich dann sagt, diese Gewalt gegen unsere Frauen und Mädchen, lasse ich mir nicht mehr gefallen. Ab heute werde ich LAUT sein, wenn ich so etwas sehe, höre oder sonst wie mitbekomme. Danke.

KStA abonnieren