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Kampf um Gesamtkunstwerk und gegen Klischees

Lesezeit 4 Minuten

Sven Mees, Christoph Korb, Ralph Brachtendorf, Ricarda Giefer, Boris Metz (v. l.) sind die Punkgruppe Liebe Frau Gesangverein.

  1. Kölner Punkgruppe "Liebe Frau Gesangsverein" veröffentlich ihr Debüt "Nackt" - Frau als Frontsängerin

Der Titel ihrer Band ist quasi entmännlicht, ihr Sound auch: Die Kölner Punkgruppe "Liebe Frau Gesangsverein" hat gerade ihr Debütalbum "Nackt" veröffentlicht - und zwar mit einer Frau als Sängerin an der Spitze. So außergewöhnlich diese Personalie für eine Punkband zunächst scheint, so sehr stört es die Gruppe, immer wieder auf dieses eine ihrer Alleinstellungsmerkmale angesprochen zu werden - denn eigentlich geht es den Newcomern um etwas anderes.

Eine schummrige Kneipe nahe Rudolfplatz. Vier dunkel gekleidete Männer sitzen um einen Tisch im Etablissement ihres Vertrauens, vor sich ein Kölsch, neben ihnen trinkt eine zierliche Frau ein Glas Rotwein. Ricarda Giefer ist Frontfrau der Punkband Liebe Frau Gesangsverein und damit eine starke Frau in einer Männerdomäne. Fragende Blicke und blöde Sprüche kennt sie nur allzu gut. Aber: "Meine weibliche Stimme zum Alleinstellungsmerkmal unserer Band zu machen, finde ich Blödsinn, das wäre einfach zu wenig", sagt die 32-Jährige. Zumal man nicht lange suchen muss, um bei der Band Potenzial zu finden, über das es sich wirklich zu sprechen lohnt: "Die Geschichten unter Künstlern und unter Vagabunden war'n am Ende viel zu laut und war'n von Anfang an erfunden", singt Giefer auf der Debütplatte. Und schnell wird klar: Die Texte sind das größte Pfund der Band, das wahre Alleinstellungsmerkmal. Persönlich, nahbar, einprägsam, gesellschaftskritisch, eben "nackt" - und vor allem sehr intelligent. Ihre Intention wird teils erst nach mehrmaligem Hören deutlich, ist sie doch verklausuliert in sprachlichen Figuren, Symbolen und Metaphern. "Für mich ist das eine Art Kunst, in der ich mich ausdrücken kann", sagt die Frontfrau, die als Kunstlehrerin arbeitet, ihren Beruf für die Musik aber jederzeit an den Nagel hängen würde. Noch ist die Band für alle Mitglieder reines Hobby, die Musik jedoch mehr als bloße Freizeitbeschäftigung. "Hier gaben wir dem Affen Zucker und dem gierigsten der Wölfe Futter", heißt es in einem Text der Band.

Keine politischen Texte

Gesellschaftskritisch ja, bewusst politisch bisher nur auf der Bühne, nicht in den Texten. "Wir haben für das Politische bisher einfach noch keine Darstellungsform gefunden", erzählt Giefer. "Aber auch das wollen wir angehen, schließlich stehen wir ja in der Tradition des Punk." Punkmusiker zu sein - für die Band bedeutet das die Freiheit, das zu machen, worauf sie Lust hat, sich selbst viel zuzutrauen, viel weniger aber, gängige Klischees zu erfüllen. So hat mancher Punkfan die Band wegen der deutschen Texte schon zur "Schlagergruppe" degradiert. "Wir sind alle arbeitende Leute und erledigen unsere Steuererklärung, aber wir machen eben auch Musik, die sich nach Punk anhört", sagt Bassist Christoph Korb. Die intelligenten Texte der Band sind gebettet in harte Gitarrenriffs und satte Schlagzeugklänge, mal angepasster, mal rebellischer, immer sich selbst und dem eigenen Lebensgefühl des Andersseins treubleibend. Laut, treibend, unkonventionell.

Wenn Liebe Frau Gesangsverein zusammen an neuen Songs arbeitet, dann muss die Band nicht mal in einem Raum sitzen. Nicht alle Bandmitglieder leben in Köln, manche wohnen im Raum Koblenz. Da, wo alle aufgewachsen sind und sich kennengelernt haben.

Jetzt trennen das Quintett hundert Autobahnkilometer und das eigene Familienleben - alles eine Frage der Prioritäten, meint die Band. "Wir sitzen oft zu Hause, arbeiten an unseren Parts und schicken uns die dann gegenseitig zu, bis wir zufrieden sind", erzählt Korb. "Manchmal sind wir unterschiedlicher Meinung. Das ist ein Zusammenspiel, das einem Kampf ähnelt. Wir kämpfen um das Gesamtkunstwerk." Gitarrist Boris Metz ergänzt: "Schlussendlich steht das für die Progressivität, mit der wir arbeiten."

Progressiv sein - das will das Quintett jetzt besonders, wo die Arbeiten am neuen Album anstehen. Das Debütalbum "Nackt" wurde vielfach besprochen und in Schubladen gesteckt: Ein bisschen geärgert hat sich die Band über einen Vergleich mit der deutschen Poprockgruppe "Sportfreunde Stiller", "weil die doch ganz anders ticken als wir", ein wenig geehrt gefühlt hingegen wegen eines Vergleichs mit dem Ton-Steine-Scherben-König Rio Reiser. Die Erwartungen an Liebe Frau Gesangsverein sind also hochgesteckt, die Band will trotzdem experimentierfreudig bleiben: "Wir sind dabei, mutiger zu werden, unsere Musik soll noch mehr Ecken und Kanten bekommen", sagt Korb. Ein Satz mit einem Ausrufezeichen, sagt das doch eine Band, die schon jetzt im besten Sinne außergewöhnlich ist - in vielerlei Hinsicht.

STECKBRIEF

Sängerin Ricarda Giefer (32) und Bassist Christoph Korb (40) wohnen in Köln. Die Gitarristen Boris Metz (40) und Ralph Brachtendorf (41) leben in Koblenz, Schlagzeuger Sven Mees (35) ist Neuwied. Alle fünf kommen aus dem Raum rund um Koblenz. Das Debütalbum der Band, "Nackt", ist ab zwölf Euro im Onlineshop von "Liebe Frau Gesangverein" und bei allen Streamingdiensten erhältlich. In der Nähe tritt das Quintett am 6. Juli im Sonic Ballroom in Ehrenfeld, Oskar-Jäger-Straße 190, auf. Konzertbeginn ist um 20 Uhr, der Eintritt beträgt acht Euro. (ram)