WachkomaIm Stehen kann kein Mensch schlafen

Alireza Sibaei, der eine erste Berufsausbildung als Ergotherapeut absolviert hat, mobilisiert einen Wachkomapatienten.
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Ensen-Westhoven – Forschen und pflegen: Das ist eine Kombination, die es in Deutschland selten gibt. „Medizinische Forschung wird in der Regel an Universitätskliniken betrieben“, sagt Alireza Sibaei. „Wir sind aber kein Krankenhaus. Wir sind eine Pflegeeinrichtung.“ Mit „wir“ meint der 40-Jährige die Häuser Monika und Christophorus der Alexianer sowie das jüngst eröffnete Hauses Stephanus, in denen er als Therapiekoordinator tätig ist. In allen drei Einrichtungen werden Menschen mit schwersten Schädelhirnverletzungen betreut. Einige von ihnen liegen im so genannten Wachkoma.
Im Laufe der vergangenen Jahre hat Sibaei mit seinem Team die Pflegeeinrichtung zu einem Kompetenzzentrum weiterentwickelt. Inzwischen ist hier sogar das Deutsche Institut für Wachkomaforschung (DIWF) angesiedelt. Sibaei selbst promoviert derzeit in Boston auf dem Gebiet der Neurowissenschaften. Das dortige medizinische Institut gehört zur renommierten Harvard-Universität.
„Wachkoma ist in Deutschland kein Thema“, beklagt der 40-Jährige. Elke Feuster stimmt ihm zu. Sie ist Leiterin der Alexianer-Einrichtungen Haus Monika und Haus Christophorus sowie des jüngst eröffneten Hauses Stephanus und hat daher ständig mit Patienten mit Schädelhirnverletzungen zu tun. Auch sie hat sich intensiv in das Thema eingearbeitet und ist im geschäftsführenden Vorstand der „Bundesarbeitsgemeinschaft Phase F“. Der eingetragene Verein setzt sich ebenfalls für Wachkomapatienten ein.
Zahl der Patienten steigt ständig
Wie gering das Interesse an der Krankheit ist, zeige sich an der Benennung. „Da stehen wir noch im Jahr 1972“, sagt der gebürtige Iraner Sibaei. Damals sei der Begriff Wachkoma geschaffen worden für einen Zustand, in dem die Patienten zwar aus dem Koma erwacht sind, aber keine Reaktionen auf äußere Reize zeigen. „Aber die Bezeichnung ist unsinnig“, schimpft Sibaei. „Entweder man ist wach, oder man liegt im Koma.“ Er und seine Mitarbeiter sprechen vielmehr vom „Syndrom reaktionsloser Wachheit“.
„Die Zahl der Patienten steigt ständig“, sagen Sibaei und Feuster. Dank des medizinischen Fortschrittes würden immer mehr Menschen auch schwerste Schädelhirnverletzungen überleben. Dass Deutschland so weit hinterherhinke, hänge mit der rechtlichen Situation zusammen. In den Nachbarländern dürfe gegebenenfalls Sterbehilfe geleistet werden. Nach einem Wachkoma in Folge eines Schädelhirntraumas etwa werde nach einem Jahr überdacht, ob die lebenserhaltende Behandlung eingestellt wird. Sei der Zustand nach einer Phase entstanden, in der das Gehirn über längere Zeit ohne Sauerstoffversorgung war, würde bereits nach sechs Monaten das weitere Vorgehen überprüft. „In diesen Fällen sind die Schäden oft sehr groß“, erklärt der Iraner.
Gesellschaft schenkt wenig Aufmerksamkeit
„Wie bei Prinz Friso“, fährt Sibaei fort. Der zweite Sohn von Königin Beatrix und Prinz Claus der Niederlande war beim Skilaufen von einer Lawine verschüttet worden und nach der Wiederbelebung ins Koma gefallen. „Mitte des Jahres konnte er dann aber wohl leichte Reaktionen zeigen“, berichtet Sibaei, der mit dem behandelnden Arzt Kontakt aufgenommen hatte. „Deshalb hatte die königliche Familie ihn nach Hause geholt.“ Dort war er aber nach wenigen Wochen gestorben.
„Im Wachkoma haben Patienten mit vielen Komplikationen zu kämpfen“, ergänzt Sibaei. Das sei wohl auch bei dem Prinzen der Fall gewesen, der schließlich an Lungenentzündung gestorben sei. „Wenn man weiß, dass die Behandlung irgendwann eingestellt wird, tut man alles, um den Patienten vorher zu mobilisieren“, fährt Sibaei fort. „Aber wir behandeln ja weiter“, ergänzt Elke Feuster. „Das ist eine andere Ausgangslage.“
Wie wenig Aufmerksamkeit Wachkomapatienten geschenkt wird, kann Sibaei mit Zahlen belegen: „In Deutschland leben zwischen 15 000 und 30 000 Betroffene. Eine genaue Zahl kennt keiner.“ In Österreich sei das ganz anders. Dort lebten exakt 852 Patienten. Auch würden im englischsprachigen Bereich jährlich rund 400 Fachartikel veröffentlicht. „Aus Deutschland kommen vielleicht zehn“, bedauert der Iraner.
Ziel ist immer Reaktionen zu provozieren
Sibaei und seine Mitarbeiter setzen alles daran, dass sich das ändert. Der Iraner selbst kommt mit drei Stunden Schlaf aus und investiert seine ganze Freizeit in die Forschung. Das Ziel: eine Verbesserung der Lebensqualität der von ihnen Betreuten. „Bei uns bleibt keiner liegen“, heißt es etwa. So werden Komapatienten, sobald es geht, in eine aufrechte Position gebracht. „Im Stehen kann kein Mensch schlafen“, weiß Sibaei. Auch werden die Patienten unterschiedlichen Reizen ausgesetzt. „Wenn einer Mozart-Opern mag, spielen wir ihm Heavy Metal vor“, sagt Elke Feuster schmunzelnd. Ziel sei immer, eine Reaktion zu provozieren.
Doch das seien nur erste Schritte. Alireza Sibaei und sein Team wollen weiterforschen. Deshalb haben sie jetzt auch die deutschlandweit erste Wachkoma-Tagung nach Porz geholt. Künftig sollen sich Tagungen und Symposien im Zwei-Jahres-Rhythmus abwechseln. Die Kosten hierfür übernimmt die Gesellschaft der Alexianer. Für die Forschung steht indes kein Geld zur Verfügung. „Das fließt in Universitätskliniken“, sagt Sibaei. „Aber wir sind ja eine Pflegeeinrichtung.“