Erdbeben in der Türkei und SyrienPorzerin half vor Ort – und ist „entsetzt“ über Berichte von Überlebenden

Lesezeit 4 Minuten
Eine Familie steht vor einem Zelt.

Mit wetterfesten Zelten, finanziert aus Spenden, stattete die Helfergruppe um Gulê Cinar-Sahin mehr als 100 obdachlos gewordene Familien aus.

Die Porzerin Gulê Cinar-Sahin reiste ins türkisch-syrische Erdbebengebiet und leistete Hilfe vor Ort.

Die Nachricht vom schweren Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien hat Gulê Cinar-Sahin vom Verein Pro Humanitate nicht ruhen lassen. Die Porzerin, die im Standort des Vereins in Zündorf für die Jugendförderung und einen Brückenschlag zwischen Menschen und Kulturen arbeitet, beschloss, persönlich an Ort und Stelle die notleidende Bevölkerung zu unterstützen.

Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei: Zündorfer Verein half direkt

Unmittelbar nach den Erdbeben am 6. Februar starteten die Vereine Pro Humanitate, Franziskaner-Helfen und „Vision teilen“ eine gemeinsame Nothilfe für Erdbebenopfer. Gulê Cinar-Sahin und ein kleines Team Freiwilliger aus der Türkei leisteten vom 15. Februar bis zum 1. März im Erdbebengebiet Hilfe.

„Trotz vieler Hürden haben wir es geschafft, 105 winterfeste Zelte, 515 Decken und 100 Lichtstrahler in sechs Dörfer um Adiyaman zu bringen“, berichtet Cinar-Sahin, die den Einsatz geleitet hat. Die Stadt Adiyaman im Südosten der Türkei ist nach Berichten der Helfer zu annähernd 70 Prozent zerstört. Jede Familie in den umliegenden Dörfern beherberge zurzeit Verwandte und Bekannte, die zuvor in der Stadt gelebt hatten.

Vom Ausmaß der Verwüstungen in der Stadt Adiyaman war ich entsetzt, noch mehr aber von dem, was Überlebende berichtet haben
Gulê Cinar-Sahin, Helferin

„In einfachen Lehmhäusern, die sonst zehn bis 15 Familienmitglieder beherbergt haben und die vom Erdbeben gleichfalls Schäden davongetragen haben, leben jetzt bis zu 50 obdachlos gewordene Verwandte“, sagt die Helferin.

Porzerin spricht von unzureichenden Rettungsmaßnahmen

Die wetterfesten Zelte, die sie in Adana anfertigen lassen hat, linderten jetzt die allergrößte Not. „Vom Ausmaß der Verwüstungen in der Stadt Adiyaman war ich entsetzt, noch mehr aber von dem, was Überlebende berichtet haben.“ Demnach sei in den ersten vier Tagen nach dem Beben keinerlei Hilfe in der Stadt eingetroffen. Verschüttete, mit denen Angehörige von draußen noch Tage lang hätten sprechen können, seien unter den Trümmern schlichtweg erfroren.

Die Porzerin spricht von unzureichenden Rettungs- und Hilfsmaßnahmen der Regierung, des Roten Halbmondes und des örtlichen Katastrophenschutzes in den Tagen nach dem Beben. Sie habe viele Klagen darüber gehört, dass Gebiete, in denen Aleviten und Kurden leben oder wo die Regierungspartei bei Wahlen keine Mehrheit finde, bewusst vernachlässigt würden.

Vier Wochen nach den Erdbeben habe die Bevölkerung in Tausenden Dörfern immer noch keine staatliche Unterstützung bei Bergungsarbeiten und keine erste Nothilfe erfahren, berichtet die über Istanbul aus Deutschland angereisten Helferin. Es gebe kaum Trinkwasser, die sanitären Zustände seien katastrophal und entwürdigend. Auch in den Städten seien weder ausreichend Zelte und Container noch Lebensmittel und Hygieneartikel vorhanden.

Porzerin reist bald wieder in die Türkei

Vielfach habe die Regierung Hilfsgüter der Zivilgesellschaft beschlagnahmt, umetikettiert und an die eigene Klientel verteilt. „Das war unsere größte Sorge, dass unsere Hilfsgüter gar nicht ihr Ziel erreichen“, erinnert sich die Porzerin. „Es gab auch Versuche, unsere Lieferung zu beschlagnahmen. Dank unserem Team, den Dorfvorstehern und weiteren Helfern vor Ort konnte unsere Lieferung schließlich doch die Dörfer um Adiyaman erreichen und verteilt werden“, sagt Cinar-Sahin und fügt hinzu: „Alle dort lebenden Familien haben etliche Angehörige durch das Erdbeben verloren. Sie brauchen jetzt Hilfe, egal ob es sich um Kurden, Türken oder Syrer handelt. Da haben wir bei der Versorgung mit Zelten und Decken natürlich keinen Unterschied gemacht.“

Die Grenzübergänge zu Erdbebengebieten in Nordsyrien halte die Türkei noch immer geschlossen, sodass Millionen hilfsbedürftige Menschen fast keinerlei Unterstützung bekommen könnten. Nach ihren eigenen Erfahrungen fordern die Helferinnen und Helfer die Bundesregierung zum politischen Handeln auf. Es müsse verhindert werden, dass die Hilfsmaßnahmen der Zivilgesellschaft behindert, Helfer der Nicht-Regierungsorganisationen schikaniert und ihre Hilfsgüter beschlagnahmt würden.

Die insgesamt mehr als 570.000 Euro Spenden für die Erdbebenhilfe reichten zur Finanzierung der Zelte, Decken und Solarlichter. Das Projektteam arbeitete ehrenamtlich. Was sie gesehen und erfahren haben, hat den Helfern aber deutlich gemacht, wie sehr auch nach dem baldigen Ende des Winters Hilfe vonnöten ist.

Zelte und Decken würden weiterhin gebraucht, bis die Opfer einen festen Wohnsitz haben. Dies werde eine längere Zeit in Anspruch nehmen, weil Millionen Menschen betroffen sind und die Errichtung neuer Häuser und Gebäude, die zudem erdbebensicher sein sollen, nicht in kürzester Zeit erfolgen kann.

Die Hilfsorganisationen wollen sich weiterhin um die Beschaffung von Kleidung, Hygieneartikel und Lebensmitteln kümmern. „Die Kinder brauchen Schulmaterial und die Bauern der Region Saatgut und Tierfutter“, sagt Cinar-Sahin bittet, die Opfer nicht zu vergessen. Nach den Wahlen in der Türkei im Mai will sie zu einem weiteren Hilfseinsatz ins Erdbebengebiet reisen, Spenden werden dringend gebraucht.

E-Mail-Kontakt: pro-humanitate@web.de

KStA abonnieren