„Psychoterror“Warum Eltern in der Pandemie besonders leiden

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Theresa Kamp mit ihren drei Kindern auf dem Spielplatz. Die Pandemie versetze die Familie seit zwei Jahren in ständige Alarmbereitschaft. „Ich sehne mich so sehr nach Ruhe.“

Köln – Wenn Vera Ludewig an das allmorgendliche Szenario der vergangenen Wochen denkt, dann kommt der Mutter von zwei kleinen Kindern vor allem ein Wort in den Sinn: Psychoterror. Aktuell sieht nicht nur ihre, sondern die Realität vieler Mütter und Väter so aus: Morgens zwischen 6 und 7 Uhr aufstehen, vorsichtig aufs Handy schauen und darauf hoffen, dass es nicht wieder ein Kind aus derselben Kita-Gruppe oder Klasse erwischt hat, sprich, das Covid-Schnelltestergebnis positiv war. Hinzu kommt die tägliche Testung der eigenen Kinder, ebenfalls immer von einem gewissen Unbehagen begleitet.

Ludewig hat ein Kind in der Kita und eins in der zweiten Klasse, sie und ihr Mann sind beide berufstätig. Für Lehrerinnen und Lehrer ist Homeoffice schon lange keine Option mehr, denn die Schulen sind landesweit wieder geöffnet. Es ist eine ewige Ambivalenz der Gefühle – sie bewegt sich zwischen einer Art Ratlosigkeit, „Wo soll dieser Quarantäneirrsinn noch hinführen?“, und einem gewissen Pragmatismus, „Ach, komm. Wir schaffen das schon irgendwie“. Manche haben indes völlig resigniert.

Koalitionsvertrag übergeht Mütter und Väter

Seit Beginn der Omikron-Welle sind Eltern abermals gefordert, vielleicht sogar mehr denn je in dieser Pandemie. Nach zwei Jahren mit Lockdowns, Schulschließungen, sich permanent ändernden Quarantänevorschriften und fehlender Planbarkeit sind nun allmählich auch die Widerstandsfähigsten von ihnen am Limit.

Eine gewisse Dünnhäutigkeit macht sich breit. War es am Anfang noch die Wut über die zunächst willkürlich wirkenden Maßnahmen, ist diese nun massiven Stresssymptomen und einer tiefsitzenden Gewissheit darüber gewichen, dass Eltern eben doch keine Lobby in dieser Gesellschaft haben.

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Die Kölnerin Theresa Kamp sagt: „Kinder und Familien werden in der Pandemie kaum bedacht. Das ist keine gute Erfahrung. Beim Impfen habe ich zum Beispiel überhaupt nicht verstanden, warum wir Eltern keine Priorisierung bekommen haben. Wir sind doch auch pflegende, versorgende Menschen. Meine größte Angst war damals, dass mein Mann und ich krank werden und uns nicht um unsere Kinder kümmern können.“ Die Mutter dreier Kinder (2, 2 und 5) fühlt sich von der Politik kein bisschen unterstützt: „Das Leben mit Kindern ist ohnehin knackig. Aber diese Pandemie on top setzt allem die Krone auf. Ich sehne mich so sehr nach Ruhe.“ 

Yvonne Bovermann bestätigt diesen Eindruck: „Im Koalitionsvertrag kommen sowohl Mütter wie auch Väter und pflegende Angehörige nicht vor“, kritisiert die Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks, zu dessen Verbund mehr als 70 Reha- und Kurkliniken gehören. Sie selbst, ebenfalls Mutter von inzwischen drei erwachsenen Kindern, sei selbst sehr darüber enttäuscht gewesen, als sie und ihr Team den Koalitionsvertrag ohne Ergebnis auf diese drei Suchwörter gescannt hätten.

Der Vertrag sei zwar sehr kinderzentriert: „Doch die beste Kinderförderung wird schwer gelingen, wenn die Eltern nicht auch im Fokus stehen.“ In der Pandemie zeigt sich einmal mehr, wie es um den Energiehaushalt und Gesundheitszustand von Care-Arbeit-Leistenden bestellt ist: „Die Träger berichten mir, dass der Ansturm auf Beratungsstellen und telefonische Beratung enorm ist. Von einer 35-prozentigen Steigerung ist da die Rede“, berichtet Bovermann.

Lebenszufriedenheit der Frauen ist gesunken

Eine Mitte Februar dieses Jahres veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) kam ebenfalls zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Kita- und Schulschließungen während der ersten Corona-Welle haben vor allem Mütter belastet.

Für beschäftigte Frauen mit Kindern bis zwölf Jahren stieg die für Job, Pendeln, Kinderbetreuung und Haushalt aufgewendete Zeit im Frühjahr 2020 um acht Stunden pro Woche, für Väter um nur drei Stunden. Gleichzeitig sei die Lebenszufriedenheit der Frauen im Frühjahr 2020 gesunken.

Zu viel Spielraum bei Quarantäneverordnungen

Seit einigen Wochen wütet Covid in Form von Omikron regelrecht unter den Jüngsten. Für viele Mütter und Väter vergeht kaum ein Tag ohne neue Covid-Botschaften im näheren Umfeld. Unzählige Kinder müssen immer wieder in Quarantäne, mitunter ganze Kita-Gruppen oder Klassen. Von Normalität kann vielerorts nicht die Rede sein. Das zerrt bei vielen Eltern, wie auch bei Ludewig, an den Nerven und damit auch immer stärker an der Substanz.

Dreimal in Folge mussten ihre Kinder zuletzt fünf Tage in Quarantäne. In den Weihnachtsferien schließlich habe sie die Erschöpfung eingeholt: „Da ging“s mir richtig schlecht.“ Die Kurzfristigkeit, in der Entscheidungen getroffen werden müssen, die immer aggressivere Stimmung in den Eltern-Whatsapp-Gruppen und der Interpretationsspielraum, den viele Quarantäneverordnungen zulassen, all das sei einfach zermürbend.

Jolanda Marder (Name von der Red. geändert), Mutter eines zwei- und eines fünfjährigen Kindes und ebenfalls berufstätig, pflichtet ihr bei: „Wenn so viele Säulen wackeln, dann geht das sehr an die Substanz.“ Auch für sie sei in den vergangenen Wochen und Monaten die „plötzlich geforderte Flexibilität“ das einschneidendste Erlebnis gewesen, immer wieder war eines ihrer beiden Kinder in Quarantäne: „Ich musste immer Risiken abwägen, mit den Großeltern abstimmen, ob sie spontan einspringen können, und entscheiden, was zu tun ist, wenn die Warn-App mal wieder auf Rot springt.“

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Familie Swifka fürchtet sich vor positiven Pooltests: „Wir werden das durchstehen. Was bleibt uns auch anderes übrig? Aber man kann nichts planen. Man kann nur versuchen, zu reagieren und nicht durchzudrehen.“

Janine Swifka ist Biochemikerin und arbeitet Vollzeit bei Bayer. Gleichzeitig betreut sie zeitweise ihre Kinder Verena und Mats (sechs und fünf). Ihr Mann Ingo ist Notarzt. Die Nerven liegen blank. Swifka sagt: „Wir werden das durchstehen.  Aber man kann nichts planen. Man kann nur versuchen,  nicht durchzudrehen.“

T. Schneider aus Köln klagt, dass die Alleinerziehenden vergessen wurden. Zwar gab es irgendwann die Möglichkeit der Notbetreuung für sie als Handwerkerin. Aber: „Beim Schulstoff ist er nicht mitgekommen, er musste das zweite Schuljahr wiederholen. Und das bestand fast nur aus Notbetreuung. Ich musste ja arbeiten gehen, ich konnte mich nicht immer mit ihm hinsetzen und lernen.“

Zurück bleibt für T. die Erschöpfung: „Diese Zeit hat mich sehr viel Kraft gekostet, sie war mit großen Verlustängsten verbunden.“ Und dann ist da noch das Gefühl, keinem gerecht zu werden, weder den eigenen Kindern, noch der Arbeit, geschweige denn sich selbst und den eigenen Bedürfnissen.

Pandemie wird zum „Damoklesschwert“ für Familien

Nils Backhaus ist Psychologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und Mitglied der Gruppe „Arbeitszeit und Organisation“ im Fachbereich „Arbeitswelt im Wandel“. Auch er sieht in der Kurzfristigkeit, in der Eltern derzeit Entscheidungen treffen müssen, eine „enorme Belastung“, zumal im Umkehrschluss „eine langfristige Planung nicht mehr möglich ist“. Die Pandemie und die damit einhergehenden Unwägbarkeiten hingen permanent wie „ein Damoklesschwert“ über vielen Familien.

Die Folge daraus? Dauerstress, verbunden mit permanenten Sorgen und einem Gefühl der Überforderung, das sich bei einem beträchtlichen Anteil der Väter und vor allem Mütter zunehmend auch physisch und psychisch zeige: nicht mehr abschalten können, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen. Kaum einer sei angesichts derartiger Rahmenbedingungen in der Lage, 100 Prozent Leistung bei der Arbeit zu bringen. Stoße man in einem derartigen Zustand noch auf ein wenig familienfreundliches Arbeitsklima, sprich, wenig orts- und zeitflexibles Arbeiten und Unverständnis der Arbeitgeber, „dann bleibt einem kaum noch etwas anderes, als sich krankzumelden“, mahnt Backhaus.

Der Arbeitspsychologe sieht an dieser Stelle einen deutlichen Anpassungsdruck: „Da muss nachgebessert werden, die Welt hat sich in der Pandemie deutlich schneller gedreht.“ Männer etwa gerieten heute immer noch allzu oft in einen Rechtfertigungszwang, wenn sie ihre Arbeitszeit reduzieren wollen, bei Frauen sei das weiterhin deutlich akzeptierter. Zeitgleich haben immer mehr Paare den Anspruch, die Care-Arbeit gleichmäßig aufzuteilen.

Mütter am Rande des Burn-outs

Tim Flügel erlebt dieses Missverhältnis gerade am eigenen Leib, wenngleich aus der vermeintlich komfortableren Perspektive. Der Vater von zwei kleinen Kindern (1,5 und drei Jahre) steckt mitten in der Facharztausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater. Auf Station können er und seine Kolleginnen und Kollegen, ebenfalls pandemiebedingt, der stark gestiegenen Nachfrage kaum nachkommen.

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Flügels Frau ist Freiberuflerin und seit Wochen mit den Kindern zu Hause, mal ist es Omikron, mal eine dicke Erkältung, die den beiden kleinen Jungs den Zutritt zu Kita und Krippe verwehrt. An Arbeit ist da kaum zu denken, stattdessen machen sich Unzufriedenheit und Erschöpfung an allen Fronten breit: „Ich habe schon auch sehr unter der Situation gelitten. Einerseits konnte ich zwar arbeiten, gleichzeitig habe ich aber auch gesehen, wie zu Hause die Reserven immer mehr aufgebraucht waren. Der Januar mit den wenigen Sonnenstunden und den eingeschränkten Möglichkeiten, sich draußen aufzuhalten, haben die Situation nicht besser gemacht.“

Während seine Frau am Rande des Burn-outs ist und zudem auf einen Großteil ihres Einkommens verzichtet, reibt Flügel sich bei der Arbeit auf.

Fehlender Kulturwandel in der Arbeitswelt

Müttergenesungswerk-Geschäftsführerin Bovermann betrachtet diesen Missstand mit großer Sorge. Sie bemängelt den fehlenden Kulturwandel, der auch nicht durch die Politik gefördert werde. Mit dem Ehegattensplitting etwa würden Frauen bestraft, wenn sie mehr arbeiteten. Männer hingegen fänden eine Arbeitskultur vor, in der weniger arbeiten oder früher nach Hause gehen überhaupt kein Thema ist. „Meine Vermutung ist, dass wir nach wie vor sehr etablierte patriarchale Strukturen haben“, sagt Bovermann.

Wohin all diese Missstände führen? Backhaus formuliert es so: „Durch das ewige Weiterfunktionieren, was bleibt einem als Eltern auch anderes übrig, entsteht eine Erholungsschuld und die führt zu diffusen Störungen, langfristig kann daraus eine Depression entstehen. Oder, wie Bovermann es beobachtet: „Es macht etwas mit Menschen, wenn sie so krank werden und sich so verletzt fühlen, dass sie die Grundversorgung ihrer Bedürftigen gar nicht mehr stemmen können. Das ist ein Verwundbarkeitsgefühl, das einen noch ganz lange begleitet. Das lässt sich mit Kosten im Gesundheitssystem gar nicht mehr beziffern.“

Bovermann sieht die Politik in der Bringschuld, die Regierung müsse die Care-Arbeit-Leistenden stärker in den Fokus nehmen, schauen, was sie gesund hält und was sie krank macht, die Rahmenbedingungen analysieren: „In einer idealen Welt werden Mütter und Väter nicht kranker als andere Menschen. Ich wünsche mir, dass Politikerinnen und Politiker Gegenmaßnahmen ergreifen, dass etwa verbindliche nationale Gesundheitsziele gesetzt werden.“

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