Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

SS-Standartenführer Willy HerbertIm Schatten des Vaters

Lesezeit 8 Minuten

Gerhard Herbert mit Familienunterlagen

Köln – Vor neun Jahren hat Gerhard Herbert aus Offenbach am Main einen Brief an seinen toten Vater Willy geschrieben. Der Brief ist kurz, und Gerhard Herbert kann ihn aus dem Gedächtnis zitieren: "Was du gemacht hast, geht mich nichts an. Es war dein Leben. Aber ich habe darunter zu leiden. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Aber ich habe immer noch damit zu tun."

Geholfen hat das nicht. "Ich möchte ihn hassen, aber ich komme einfach nicht los von diesem Mann", sagt der 83-Jährige. "Ich kämpfe bis heute." Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Mappe mit der Aufschrift "Was wäre wenn". Darin enthalten: Briefe, Dokumente und Fotos von Wilhelm Ludwig Herbert, SS-Standartenführer in Frankfurt, Darmstadt und Köln - und mutmaßlich beteiligt an der berüchtigten Vernichtungsaktion "Reinhardt" im deutsch besetzten Polen und der Ukraine, der zwischen 1942 und 1943 mehr als zwei Millionen Juden, Sinti und Roma zum Opfer fielen. Die Aktenlage, konstatiert der Sohn, lege den Schluss nahe, dass SS-Sturmbannführer Willy Herbert im Oktober 1942 "nicht nach Polen ging, um dort das Vaterunser zu beten".

Erst spät Auseinandersetzung mit Geschichte

"Die Büchse der Pandora", sagt Herbert und nimmt einen Packen Fotos in die Hand. Der Vater 1938 mit Hakenkreuzarmbinde bei einer Weihnachtsfeier im Kölner Gürzenich. Seit einem Jahr ist er Führer der Kölner SS-Standarte. Zwei Jahre später wird er als Ratsherr im Rat der Stadt Köln sitzen. Willy Herbert beim Kölner Aufmarsch zu Ehren von Adolf Hitlers 50. Geburtstag am 20. April 1939. Willy Herbert vor einer Schreibstube irgendwo in Polen. Willy Herbert 1943 in SS-Uniform in Warschau. "Gedenke der Pflichten, die Du übernommen hast. Dein Vater", steht handschriftlich auf der Rückseite des Fotos.

Herbert schnaubt. "Nazi-Sprüche", sagt er und legt das Foto beiseite, als habe er sich daran die Finger verbrannt. 60 musste er werden, ehe er bereit war, sich mit sich selber und seiner Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Fertig ist er damit noch lange nicht. An diesem Freitag wird Herbert in Köln dem NS-Dokumentationszentrum die SS-Ahnentruhe der Familie mit Fotos und Dokumenten übergeben, die bislang auf dem Speicher der Schwester stand.

Und er wird an diesem Tag einer Kölner Schulklasse von seinem Vater und dessen Taten erzählen. Und davon, dass Willy Herbert 1969 als freier und unbescholtener Bürger starb. Seit Jahren tritt der pensionierte Latein-, Geschichts- und Politiklehrer an seiner früheren Schule im hessischen Heusenstamm als Zeitzeuge der Nazizeit auf, um die Neuntklässler des Adolf-Reichwein-Gymnasiums für die Gefahren von rechts zu sensibilisieren. Leicht fällt ihm das nicht. "Es ist wie Prostitution. Ich stehe barfuß da und heule Rotz und Wasser", sagt er. Dennoch setze er sich dem immer wieder aus. "In der Hoffnung, dass es nicht umsonst ist und dass sich die Geschichte nicht wiederholt."

Herbert unter Mordverdacht

Willy Herbert, 1904 in Frankfurt am Main geboren, findet schon früh zum Nationalsozialismus. Bereits 1926 tritt er in die NSDAP ein, ein Jahr später wird er Mitglied der SS und erhält die Nummer 1031 - "ein ganz alter Kämpfer", sagt der Sohn. Der gelernte Friseur, inzwischen mit Irma Hofmann, einer Jugendliebe aus Frankfurter Schulzeiten verheiratet, macht schnell Karriere. 1931 steigt er zum SS-Sturmbannführer auf, zwei Jahre später ist er kommissarischer Polizeidirektor in Mainz und sitzt bis März 1936 als Abgeordneter im Reichstag.

In diese Zeit fällt auch der bis heute unaufgeklärte Mord an einem Parteigenossen des SS-Karrieristen: Im Juli 1933 wird der hessische NS-Kreisleiter Wilhelm Schäfer niedergestreckt von vier Revolverschüssen im Frankfurter Stadtwald aufgefunden. Ein Fememord? Der Mann hatte sich in der Partei mächtige Feinde gemacht.

Willy Herbert gerät schnell in Verdacht, nicht ganz unschuldig zu sein am Tod des Kameraden. Ein auf seinen Namen zugelassenes Polizeifahrzeug soll in jener Nacht in der Nähe des Tatorts gesehen worden sein. Doch der Fall wird verdächtig schnell zu den Akten gelegt. Erst 1956 wird Willy Herbert in Frankfurt der Prozess gemacht - und aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Zu Unrecht, wie Herbert bis heute sagt.

Am 1. Oktober 1937 tritt Willy Herbert in Köln die Nachfolge von SS-Standartenführer Josef Fitzthum an. Der Sohn kann sich gut an die elterliche Wohnung in der fünften Etage des Max-Fleckner-Hauses am Sülzgürtel 32 erinnern: an das überlebensgroße Hitlerbild in der Diele und die mächtige Hakenkreuzfahne. An die Waffen und die Hundepeitsche, die der Vater im "Herrenzimmer" aufbewahrt. An die Ahnentruhe im Esszimmer mit dem Julleuchter aus Ton, einem runenverzierten Kerzenständer, der bei der Jul-, der Weihnachtsfeier der SS, entzündet wird.

Wohnung in Köln-Sülz

Heute stehen von dem Gebäude an der Ecke Sülzgürtel/Berrenrather Straße nur noch die ersten drei Stockwerke. Doch wie damals sind im Erdgeschoss eine Apotheke und ein kleines Geschäft untergebracht. Auch die Kneipe auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo Herbert oft Bier in einer Siphonflasche holen musste, existiert noch. Manchmal besuchte er den Vater in der Geschäftsstelle der Kölner SS am damaligen Julius-Schreck-Platz in Braunsfeld.

1942 wird Willy Herbert zum "Sonderkommando »R« Lemberg" einberufen. So steht es in einem Personalbogen vom 20. Oktober 1942, den der Sohn 2004 auf Anfrage vom Bundesarchiv in Koblenz erhält. So steht es auch in einem Rechtshilfeersuchen der Sowjetunion an die DDR aus dem Jahr 1978, das Herbert 30 Jahre später von der "Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen" in Berlin zugeschickt bekommt. Das laut dieser Unterlagen für den Vater "zuständige Wehrbezirkskommando" hatte seinen Sitz in Lublinitz, Distrikt Lublin. Auf dessen Gebiet wiederum zwei Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" lagen: Belzec und Sobibor sowie das KZ Majdanek.

Welche Aufgaben in Lublin auf den SS-Sturmbannführer aus Köln warteten, darüber bestehen für den Sohn heute keine Zweifel. Der Vater müsse an der systematischen Vernichtung der Juden im Osten beteiligt gewesen sein. "Vielleicht gab es sogar Überlebende, die ihn auf Fotos wiedererkannt haben."

Das würde auch das Rechtshilfeersuchen der UdSSR von 1978 erklären. "Vielleicht hat er sich nicht selber die Finger schmutzig gemacht. Aber er hat zumindest den Befehl dazu gegeben."

Der Sohn hat viele Jahre gebraucht, bis er einen solchen Satz aussprechen konnte. Erst 1991, nach einem körperlichen Zusammenbruch, beginnt er sich intensiv mit der Rolle seines Vaters im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Es sollen weitere 13 Jahre vergehen, ehe er in der Lage ist, in Archiven systematisch einer möglichen Täterschaft des SS-Mannes Willy Herbert nachzuspüren.

Ungewöhnlich ist das nicht. Auch prominente "Täterkinder" wie Niklas Frank, Katrin Himmler oder Richard von Schirach haben Zeit gebraucht, sich dem Trauma ihres Lebens zu nähern. "Das Thema war eigentlich immer präsent in meinem Leben und hat in mir rumort, seitdem ich erwachsen bin", sagt Herbert. "Irgendwann hat es sich ein Ventil gesucht."

Im Abitur, das er erst lange nach dem Krieg nachholt, und auch später im Studium brilliert er mit Referaten über die Judenverfolgung und den Widerstand gegen Hitler. "Spätestens durch meine wissenschaftliche Beschäftigung mit der NS-Zeit war mir klar, dass damals etwas Schlimmes gewesen sein muss. Mir fehlten lediglich die Beweise." Bei der Mutter findet er schließlich alte Fotos aus Polen, die seinen Verdacht nähren.

Vater war angeblich tot

Warum er den Vater nie nach seiner Vergangenheit gefragt hat? Herbert zuckt mit den Schultern. Er weiß es bis heute nicht. Erst zehn Jahre nach Kriegsende sehen Vater und Sohn sich auf einem Busbahnhof in München wieder. Willy Herbert ist nach 1945 abgetaucht, ohne sich bei seiner Familie zu melden. Ein Jahr später hat Ehefrau Irma ihn für tot erklären lassen. Doch der ehemalige SS-Mann lebt und arbeitet seit seiner Rückkehr aus dem Krieg unbehelligt in München. Erst 1955 holt ihn der 22 Jahre zurückliegende Mord an Wilhelm Schäfer ein. Willy Herbert wird verhaftet und kurze Zeit später bis zur Verhandlung wieder freigelassen.

Der Sohn erfährt aus der Zeitung von der Festnahme des angeblich toten Vaters. "Mich hat fast der Schlag getroffen", erinnert er sich. "Für mich war dieses Kapitel längst abgeschlossen, und darüber war ich heilfroh." Dennoch bemüht er sich um ein Treffen mit Willy Herbert. Kein Wort fällt über die zehnjährige Abwesenheit des Vaters. Kein Wort über seine Zeit in Lublin. "Ich habe null Ahnung, wie wir überhaupt miteinander kommuniziert haben", sagt Herbert. "Ich war damals ein völlig anderer Mensch als heute. Wahrscheinlich war ich so beeindruckt von ihm, dass ich mich nicht getraut habe zu fragen." Doch eines weiß der Sohn noch genau: "Ich habe gedacht: »Papa, warum hast du dich '45 nicht erschossen?«"

Einmal noch, bei der Taufe eines Neffen 1963, sehen sich Vater und Sohn wieder. Herbert ahnt bereits genug, um dem inzwischen knapp 60-Jährigen den Handschlag zu verweigern. Unwirsch schüttelt er dessen Hand ab, als Willy Herbert ihm anerkennend auf die Schulter klopft und sagt: "Schön, dass aus dir etwas geworden ist."

Erst Jahre nach dem Tod des Vaters besucht er sein Grab in München und legt weiße Kieselsteine darauf, die er zuvor am Wegesrand gesammelt hat - "als Zeichen, dass er auch wirklich da unten bleibt".

Auch davon wird Gerhard Herbert am Freitag in Köln erzählen.