Studie zu Tic-StörungenKölner Wissenschaftler erforschen neue Behandlung von Tourette

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Tic-Studie

Die neunjährige Eva sortiert Dosen bei einem neurologischen Test zu Tic-Störungen bei Kindern.

Köln – Eigentlich sind Tics bei Kindern nichts ungewöhnliches, sagt Julia Schmidgen. „Im Grundschulalter sind schätzungsweise bis zu 15 Prozent der Kinder vorübergehend von Tics betroffen.“ Manchmal sind sie so leicht, dass Eltern und Kinder sie gar nicht bemerken. Ein Augenzucken, ein Quieken, ein Räuspern, immer wieder.

Die wenigsten Eltern denken dabei an eine Tic-Störung. Dauern diese Tics aber über ein Jahr, wachsen sie sich häufig nicht mehr raus, manchmal bleiben sie in Form des Tourette-Syndroms ein lebenslanger Begleiter. Über die Entstehung der Tics, sagt Schmidgen, weiß man bis heute sehr wenig. Dadurch sei die Behandlung der Tics schwierig. Eine Studie an der Uniklinik Köln unter Leitung von Professor Stephan Bender, durchgeführt von Julia Schmidgen, will dies ändern.

Tics treten meist in der Entwicklungsphase bei Kindern auf, häufig im Alter zwischen acht und elf. Vermutlich entstehen sie während des Entwicklungsprozesses im motorischen Cortex. Dem Teil des Gehirns, der für Bewegungen zuständig ist. Das Tourette-Syndrom beschreibt eine schwerere Form der Tic-Störung. Es setzt sich aus mindestens zwei Bewegungs-Tics und einem vokalen Tic zusammen, alle Tics müssen seit mindestens einem Jahr bestehen. Manche Kinder mit Tics-Syndrom blinzeln nur unkontrolliert, andere springen in die Luft, in seltenen Fällen schlagen sie als Tic andere Menschen oder rufen Beleidigungen.

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Belastung für Kinder und deren Familie

„Bei Kindern mit starken motorischen Tic-Störungen kann es soweit gehen, dass sie über den ganzen Tag verteilt immer wieder den Kopf schütteln, hochspringen oder sich anderweitig bewegen müssen“, sagt Schmidgen. „Die ständige Bewegung kann sehr anstrengend und belastend für die Kinder und deren Familien sein.“

An der Uniklinik Köln versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Tic-Störung besser zu verstehen: Ihre Entstehung, aber auch, wieso sie bei manchen Kindern nach ein paar Wochen oder Monaten wieder verschwindet. Und wieso sie bei manchen Kindern bleibt. Für die Studie will die Uniklinik 65 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Tic- Störung gewinnen, dazu 125 Kinder- und Jugendliche ohne Tics zwischen fünf bis 16 Jahren für die Kontrollgruppe.

Kinder machen motorische Übungen und setzen Elektrodenhaube auf

Die gesunden Kinder nehmen dafür drei Termine wahr, Kinder mit Tics vier: Am ersten Tag errechnen die Forscherinnen und Forscher den Intelligenzquotienten (IQ) und emotionalen Quotienten (EQ) der Kinder und führen motorische Übungen mit ihnen durch: Sie müssen Dosen sortieren und Stifte in ein großes Brett stecken. Alles so schnell sie können. „Diese Übung mögen viele Kinder am liebsten, da sie hierbei ihre Schnelligkeit und Reaktionsfähigkeit austesten können“, sagt Schmidgen. „Mit den motorischen Übungen am ersten Tag wollen wir mögliche Defizite ausschließen: Wenn Kinder Einschränkungen in ihren motorischen Fähigkeiten zeigen, könnte dies unsere Ergebnisse über die Entwicklung der Bewegungsvorbereitung beeinflussen.“

Beim zweiten Termin erstellen die Forscher ein EEG: Dafür setzen sie den Kindern eine Art Haube mit Elektroden auf, die ihre Hirnströme aufzeichnet. Mit der Haube auf dem Kopf spielen sie dann ein Computerspiel, für das sie Tasten drücken müssen, wenn rechts oder links ein Zeichentrick-Sheriff erscheint. Die Forscher können dabei die Vorbereitung der Bewegung im Gehirn vergleichen: Bei gesunden Kindern ist der motorische Cortex gehemmt, damit nur Bewegungen ausgelöst werden, die das Kind ausdrücklich will. Während die Kinder warten, dass der Sheriff auf einer Seite des Bildschirms auftaucht, wird diese Hemmung heruntergefahren. „Wir vermuten, dass bei den Kindern mit Tics die Hemmungsleistung vor der Bewegung niedriger ausfällt“, sagt Studienleiter Stephan Bender.

Uniklinik sucht Studienteilnehmer

Die Uniklinik Köln sucht für die Studie Kinder und Jugendliche zwischen fünf und elf Jahren, die an einer Tic-Störung oder dem Tourette-Syndrom leiden. Zudem suchen die Forscherinnen und Forscher gesunde Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und 16 Jahren, die als Kontrollpersonen teilnehmen möchten. Interessierte können sich bei julia.schmidgen@uk-koeln.de melden oder unter der 0221 478 82707

Bei Tic-Kindern, sagt Schmidgen, erfolgt das EEG zusätzlich mit einem Elektromagneten, der an die Stelle des Kopfes gehalten wird, an dem die Handbewegungen gesteuert werden. Der Magnet kann Nerven kurzzeitig erregen oder hemmen und so ein Zucken im Zeigefinger auslösen. Die Forscher erhoffen sich mehr Daten für die zielgerichtete Behandlung von Tic-Störungen mit einer Magnetstimulation. „Mit Hilfe der Magnetspule versuchen wir den Bereich im Motorcortex, der die Bewegung des Zeigefingers steuert, zu aktivieren und die Erregbarkeit des stimulierten Areals zu messen“, sagt Schmidgen. „Hierfür ist eine zusätzliche Messung notwendig.“

Für einen weiteren Termin fahren die Kinder zum MRT nach Jülich. Gerade bei jüngeren Kindern üben die Wissenschaftler vor der Untersuchung das Liegen in der MRT-Röhre zuerst in einem abgeschalteten MRT. Im MRT versuchen die Tic-Kinder, ihre Tics zu unterdrücken und auf Signale hin Knöpfe zu drücken. Kinder ohne Tics versuchen währenddessen, nicht zu blinzeln – damit sie auch einen Drang haben, den sie unterdrücken müssen.

Leidensdruck entscheidet über Behandlung

Die meisten Tics sind für die Kinder und ihr Umfeld nicht gefährlich. „Wenn ich immer wieder zwinkere, schadet es mir ja eigentlich nicht“, sagt Stephan Bender. Meist werden eher die Folgeerkrankungen behandelt: Zwangsstörungen, Angststörungen, Depression. Manche Kinder werden in der Schule für ihre Tics gehänselt und von ihren Lehrern gemaßregelt. „Entscheidend für die Behandlungsindikation ist der Leidensdruck“, erklärt Bender. „Wenn man alle anderen Möglichkeiten – zum Beispiel eine Intervention in der Schule – ausgeschöpft hat, werde die Tics behandelt.“

Die erste Stufe der Behandlung ist die Verhaltenstherapie: Die Kinder lernen, dass sie nichts für ihre Tic-Störung oder das Tourette-Syndrom können. Und sie lernen, die Tics in bestimmten Situationen zu unterdrücken. Wenn sie merken, dass sich ein Tic anbahnt – ähnlich wie das Kribbeln in der Nase vor dem Niesen – dann versuchen sie ihn umzukehren: Wenn sie mit einer Kopfbewegung nach links ticken, versuchen die Kinder, den Kopf in dem Moment des Tics nach rechts zu bewegen. Oder sie holen bei einem vokalen Tic tief Luft, damit sie nicht gleichzeitig sprechen können.

Bleiben die Tics trotzdem so stark, dass sie den Alltag der Patienten merkbar einschränken, versuchen es die Ärzte mit einer Hirnstimulation über Elektroden am Kopf. Auch eine medikamentöse Behandlung ist möglich. Letzte Option ist bei stark betroffenen Tourette-Patienten die tiefe Hirnstimulation: Hierbei wird den Patienten eine Elektrode ins Gehirn implantiert, die Tics unterdrücken soll. „Dies macht man allerdings nur in Ausnahmefällen, wenn vorherige Therapiemaßnahmen zu keiner ausreichenden Verbesserung der Symptome geführt haben“, sagt Bender.

Bender hofft auf neue Therapieformen

Von der Studie, sagt Bender, erhofft sich sein Team eine bessere Vorhersagbarkeit. „Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen sich zwischen Kindern mit chronischer Tic-Störung und Kindern, die unter vorübergehenden Tic-Störungen leiden?“ Über die Hirnströme der Kinder suchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Antworten.

Dazu hoffen sie, einen Ansatzort für die Hirnstimulation mit Magneten zu finden: „Mit Hilfe der nicht-invasiven Magnetstimulation kommen wir nicht so tief wie bei der tiefen Hirnstimulation “, sagt Bender. „Die tiefe Hirnstimulation ist zwar effektiv, aber invasiv. Wir wollen gucken, ob wir künftig auch mit nicht-invasiven Methoden ähnlich gute Effekte erzielen können.“

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