Wanderung von Merheim bis zum DomKleingarten-Rentner und Großstadt-Kletterer

Lesezeit 5 Minuten
Gudrun Glasmacher liebt den Kleingartenverein „Am Schlagbaum“.

Gudrun Glasmacher liebt den Kleingartenverein „Am Schlagbaum“.

Köln – Am Anfang war die Reisetasche. Ein Reisetasche voller bunter Schals, Plüschpantoffeln und gewagt gemusterter Unterwäsche. Sie markiert die Autobahnabfahrt Merheim wie die amerikanische Flagge den Mond; ein Symbol der Eroberung an einem Ort, der der Menschheit für gewöhnlich verborgen bleibt. Die Umgebung: grüner Wald und graue Straße. Autos mit toten Scheinwerferaugen und bis auf die Fahrer keine Menschenseele in Sicht. Hier startet um 9.30 Uhr eine Wanderung, die nach 9,5 Kilometern, vielen Stunden und etlichen Kölner Begegnungen am Dom enden soll.

Vom Taschenbesitzer weit und breit keine Spur, weitere Begegnungen scheinen vorerst ausgeschlossen. Den Seitenstreifen geht es entlang bis zur Fußgängerbrücke, die verwunschen wirkende Steintreppe hinauf. Die Luft ist dick und schwer. Im Wald mischt sich Naturgeruch mit Autobahngeräuschen. Und schließlich, nach einiger Zeit, mit den Schritten von Brigitte Hasselmann. Sie kennt sich aus mit den Fußwegen Merheims, mit langen Wanderungen. Egal zu welcher Jahreszeit: „Im Winter gehen mein Mann und ich viel spazieren, Krippen angucken“, erzählt sie. „Am Ende landen wir dann meistens im Päffgen. Mein Mann ist mit der Familie Päffgen großgeworden.“ Ein richtiger Ur-Kölner sei er, in der Apostelstraße aufgewachsen, in der Friesenstraße zur Schule gegangen. Dann zieht sie weiter, auch sie möchte heute noch eine Neun-Kilometer-Route bewältigen.

Ein Stück weiter ist das Gelände eines Schützenvereins noch verschlossen, ebenso die Rollläden des schmuddeligen Kiosks an der Straßenecke. Wer in Köln mit Wicküler Pils statt mit Kölsch wirbt, hat es vermutlich nicht leicht mit dem Geschäft. Auf einer nahegelegenen Koppel versucht Fabiana Caruana verzweifelt, Hund Jackson von den Pferdeäpfeln fernzuhalten. Der Australian Shepherd springt munter über die Wiese, stürzt sich abwechselnd auf die Haufen und ihre Verursacher. Shetland-Pony Kalle gibt sich davon nicht im Mindesten beeindruckt. Kein Wunder – das kleine Pferd trägt den großen Namen Excalibur.

„Die Arbeit mit Hütehunden wie Australian Shepherds wird oft unterschätzt“, merkt Christiane Fleper an. Die Hundetrainerin hat das Treffen auf der Koppel arrangiert. Ob sie so etwas mache wie die Hundetrainer im Fernsehen? Die Schäferstochter rümpft die Nase. „Da machen sie viel Show. Die Effekte sind nur kurzfristig. Der Weg zum Erfolg ist viel härter.“

In Merheim herrscht an diesem Morgen Vorstadtidylle. Stille Häuser, kleine Gärten. Auf der Hohensyburgstraße taucht der Kleingartenverein „Am Schlagbaum“ am Wegesrand auf. An den Fahnenmasten wehen Deutschlandflaggen. Ein freundlicher Gruß lockt Fritz Cappi aus dem ersten Garten in der Reihe. Der Rentner kümmert sich um die Anlage des Vereins, gerade ist er bei Nachbarin Gudrun Glasmacher zu Besuch. Zur Begrüßung gibt es trotz der frühen Stunde Kölsch. „Schmeckt doch viel besser als Wasser“, findet Glasmacher. Jeden Tag kommt sie in ihren Garten. Außer es gießt – und außer es ist sonst niemand da. „Alleine macht’s keinen Spaß.“ Sie erzählt von ihren Pflanzen, davon, dass sie vor lauter Himbeeren keine Marmelade mehr sehen kann. Die Autobahn ist nah, ein stetes Rauschen im Hintergrund. Über eine weitere Fußgängerbrücke geht es über die A3 in die Merheimer Heide, vorbei am Stadion des FC Viktoria, bis nach Kalk.

In der Höhenberger Straße stehen sie unter einer gelben Sonne und warten auf den General. Einen echten wohlbemerkt, keine Karnevals-Karikatur. Einen, der in der Ferne Truppen kommandiert, „eine echte Berühmtheit“, wie die Männergruppe unter der Sonne verrät. Aufregung liegt in der Luft, freudige Anspannung. General Shasho führt im Irak die Jesidentruppen gegen den IS. Hier, im jesidischen Zentrum Köln, ist er ein Held.

Die gelbe Sonne prangt als Symbol der Jesiden auf einer Flagge am Ende des Raumes. Bakir Achmad, ein Mann mit starkem Bart und gutem Deutsch, weiß genau, warum er hier ist: „Wir möchten nicht enden wie Atlantis. Oder wie die Mayas. Einfach verschwinden.“

Er spielt auf den Genozid seiner Religionsgemeinschaft durch den Islamischen Staat an. Dann ruft er Shilan Aldonani hinzu. Die 23-Jährige floh 2001 mit ihrer Familie aus dem Irak. Früher, da spielte sie mit dem Gedanken, in die Politik zu gehen. „Aber die ist mir manchmal zu heuchlerisch.“ Heute studiert sie in Siegen Lehramt und unterstützt in einem Hilfswerk Kinder und Jugendliche im Irak. „Egal welcher Religion“, sagt sie. „Der Humanismus steht im Mittelpunkt.“ Mittlerweile ist auch General Shasho eingetroffen. Er setzt sich an den Tisch vor Kopf und Shilan setzt sich zu ihren Eltern. Die Wanderer ziehen weiter. Das Ziel der Reise – der Dom – liegt noch einige Kilometer entfernt.

Die Vorstadtidylle ist dem hektischen Stadtleben gewichen, grauen Betonbauten und Zigarettenstummeln. Vor dem „Nimet Grill“ spritzt Yusuf Tetik den Weg mit dem Gartenschlauch ab – „das Auge isst mit“, so steht es schließlich auch auf dem Schild des Ladens. Das hört beim Tellerrand nicht auf. Die Kalker Hauptstraße wird an diesem Fleck ein bisschen schöner. Danach nur noch geradeaus, immer weiter, die Hauptstraße entlang. An den letzten Fußballfähnchen vorbei, zum Deutzer Bahnhof, wo eine Gruppe Rentner in den Urlaub startet, in Richtung Hohenzollernbrücke. Die Domspitzen grüßen bereits in der Ferne. Zuerst – und zuletzt – grüßt aber noch Frauke Glaser. Sie kommt gerade die Kletterfelsen an der Brücke hinaufgestiegen. Ein klassisches Motiv vor klassischer Kulisse.

KStA abonnieren