Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Weihnachten in KölnMit sechs Kindern unter dem Weihnachtsbaum

Lesezeit 5 Minuten

Alle acht an der Krippe: Clara, Gloria, Stefan Reucher, Florentina, Lisanne, Baby Isalie mit Mutter Kerstin Reucher sowie Maribel (v.l.)

Köln – Im Hause von Kerstin Reucher und ihrem Mann Stefan gibt es Multifunktions-Rindviecher. Die wechseln einmal im Jahr ihre Rolle, indem sie ihren Bauernhof-Stall im Esszimmer verlassen und sich hübsch artig – von Kinderhand geführt – zu ihrem angestammten Platz in der Krippe begeben. Sobald sie bei Maria und Josef angekommen sind, ist es nicht mehr lang bis zur Bescherung.

In diesem Jahr wurden die Osteopathin und der Internist jedoch schon vorab beschert. Vor vier Wochen überreichten die sechs Töchter des Ehepaares den beiden einen Adventskalender, den sie mit Hingabe gebastelt und mit bunt bemalten Türchen ausgestattet hatten. Sobald der Nachwuchs das macht, was üblicherweise Eltern tun, sind Vater und Mutter, so könnte man meinen, aus dem Gröbsten raus. Das stimmt im Fall der Reuchers nicht ganz.

1,4 Millionen kinderreiche Familien in Deutschland

Die Zwillinge Florentina und Maribel sind acht, Isalie, die jüngste Tochter ist gerade mal neun Monate alt. Dazwischen gibt es noch Gloria (sieben), Clara (fünf) und Lisanne, drei Jahre alt. Wäre die achtköpfige Familie wie einst Maria und Josef auf Herbergssuche, stieße sie vermutlich nicht allerorten auf offene Türen. Glücklicherweise bewohnen sie bereits ein gemütliches Heim am Rather Mauspfad, noch dazu eines, das sich im Countdown vor Heiligabend als Gegenentwurf zur hektischen und lärmenden City erweist: Es ist ein Hort des Einklangs und Friedens.

Stefan Reucher (43) und seine drei Jahre jüngere Frau sind eine der 1,4 Millionen kinderreichen Familien in der Bundesrepublik, wozu alle Paare zählen, die drei und mehr Kinder haben. Laut Angaben des in Köln gegründeten „Verbandes kinderreicher Familien in Deutschland“ entspricht das einem Anteil von immerhin zwölf Prozent an der Gesamtbevölkerung.

Ein volles Haus also. Doch das, was man erwartet, wenn man zu einer Familie mit vielen kleineren Kindern kommt, fehlt bei den Reuchers in Rath: Es gibt kein Geschrei. „Ja, es ist bei uns weniger laut, als man es sich vorstellt“, bemerkt die Mutter lächelnd. „Vielleicht ist es auch nur die Ruhe vor dem Sturm“, unkt ihr Mann auf der anderen Seite des Esstisches mit Blick auf den alten Ofen, den bereits sein Urgroßvater befeuert hat. In der Stimme des Mediziners liegt kein bisschen Befürchtung; eher das, was unmittelbar vor dem Fest so häufig anderswo fehlt: Gelassenheit. Nebenan im Wohnzimmer schmiegen sich drei der Mädchen an die Schwiegermutter, während diese aus einem Buch vorliest. Zwei Töchter nehmen auf dem Holzboden eine Neuvermessung der Weidelandschaft für den Bauernhof vor, und die kleine Isalie überblickt das Ganze von Schoß ihrer Mutter aus.

In der Küche hängt eine Schürze mit der Aufschrift: „Ich habe den Stall voller Hühner“. Dabei sei er eigentlich „gar nicht so mädchenaffin“, meint der 43-jährige Internist, der sich wie die meisten Väter zunächst auch einen Jungen gewünscht hatte. Jetzt ist er glücklich mit der reinen Mädelstruppe.

Abstimmung über den Tannenbaum

Natürlich würden er und seine Frau immer wieder gefragt, weshalb sie so viele Kinder hätten. Die Antwort der Reuchers lautet: „Weil es sich erst nach dem sechsten richtig rund und komplett anfühlte.“ Und wenn andere wissen wollen, woher beide die Zeit und die Kraft nähmen, dann können sie einleuchtend darlegen, dass sich die Arbeit nicht mit jedem Kind vervielfacht, sondern reduziert habe, solange sie gewisse Regeln konsequent einhalten und ihrem Nachwuchs keinen wirklichen Anlass geben, sich ungerecht behandelt zu fühlen.

Da auch das Christkind Reuchers Gerechtigkeitsansatz zu teilen scheint, landen jedes Jahr an Heiligabend exakt gleich viele Geschenke für jedes Kind unter dem Baum: etwas zum Spielen, etwas zum Kuscheln und etwas zum Basteln oder Rätseln. Der Baum selbst wurde in einer Gemeinschaftsabstimmung beim Förster ausgesucht und am Vorweihnachtsabend auch weitgehend gemeinsam geschmückt. Die letzten Handgriffe erledigt das Christkind immer verlässlich des Nachts.

Noch ist es nicht so weit. Vater Reucher hat sich inzwischen in die Küche begeben und rollt Teig aus. Neben ihm recken sich Clara und Gloria auf ihren Fußbänkchen und wählen ihre Förmchen zum Ausstechen. Dass sie richtig heftig in Streit gerieten, passiere nicht so oft. „Und wenn, vertragen sie sich wieder schnell.“ Kinder aus kinderreichen Familien lernten früh zu teilen und Verantwortung zu übernehmen, unterstreicht der Arzt, der übrigens auch bei einer dritten klassischen Frage nicht die erwartete Antwort liefern kann. Bei vielen Kindern sei keineswegs „immer eines krank“, da die Mädchen viel draußen seien. „Im Sommer fast immer barfuß.“

Besondern auffällig ist bei Familien mit vielen Kindern nach Worten von Alexandra von Wengersky – die Kölnerin ist Vorstandsmitglied im Verband kinderreicher Familien“ die niedrige Scheidungsquote. Während sich mehr als die Hälfte (54 Prozent) aller anderen Paar trennen, bleiben 85 Prozent der Ehepaare mit vielen Kindern zusammen. Die Diplom-Ingenieurin von Wengersky sieht die Ursache dafür in dem ausgeprägteren Gemeinschaftserlebnis, das Eltern mit vielen Kindern haben. Außerdem stützten sie sich gegenseitig und „das schweißt zusammen“. Hinzu käme, dass die Kinder ihnen einen Teil ihrer Elternarbeit abnähmen, indem sie sich gegenseitig erzögen und voneinander lernten.

„Jetzt sofort“ und „Tippitoppi!“

Aus der Küche dringt inzwischen der Duft von frischem Gebäck. Für Heiligabend steht für die Kinder Würstchen mit Kartoffelsalat auf dem Plan. Der Großeinkauf ist längst erledigt. Dass mit dem erwarteten Verwandtenbesuch insgesamt zwölf Kinder und acht Erwachsene zu versorgen sind, macht die Reuchers kein bisschen nervös. „Jeder, der kommt, bringt ja auch zwei Hände mit.“

Die Familie besucht nachmittags den Kindergottesdienst im benachbarten Bensberg, danach singen sich alle daheim auf den Besuch des Christkindes ein. Meist essen die Kinder erst nach der Bescherung, weil sie darauf fiebern, die Geschenke auszupacken. Erst wenn die sechs Mädchen im Bett sind, setzen sich die Erwachsenen zusammen – zu Fondue.

Dass sie zuvor über die Reste der Bescherung, über Geschenkpapierberge, entlaufene Krippentiere oder neues Spielzeug stolpern könnten, ist übrigens unwahrscheinlich. Denn im Hause Reucher gibt es zwei Zauberwörter. Das eine heißt „Jetzt sofort“ und das andere „Tippitoppi!“ Und das wirkt.