Zentrum für Luft- und RaumfahrtWarum der Weg zum Mond künftig über Köln führt

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Blick ins Weltall auf Planeten

Was passiert im All und auf den Planeten? Im Musc in Köln werden wissenschaftliche Experimente für das All geplant.

Im Kölner Nutzerzentrum für Weltraumexperimente testet man Bedingungen in der Schwerelosigkeit und steuert Expeditionen in unser Sonnensystem. Wir erklären, warum der Weg aller Mondreisenden künftig wohl über Köln führt.

Es ist nichts los im Musc an diesem Tag kurz vor Weihnachten. Der große Kontrollraum des Nutzerzentrums für Weltraumexperimente auf dem Gelände des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln Porz liegt verlassen da. Alle Bildschirme sind dunkel. Die Videobilder, die sonst eine Außenansicht der Internationalen Raumstation ISS und einen Blick hinein liefern, fehlen. Lediglich der Tagesplan der aktuellen Besatzung flimmert unermüdlich an der Multimedia-Wand vor sich hin.

Ihm ist zu entnehmen, dass das Mittagessen ansteht für das Team der ISS, zwei Astronautinnen und fünf Astronauten sind aktuell oben. Für jeden steht irgendwann Sport auf dem Plan. Und es sind Versuche angesetzt, die von anderen Europäischen Raumfahrtnutzer-Unterstützungszentren (Usoc) betreut werden oder in den amerikanischen, russischen oder japanischen Modulen stattfinden. Stillstand gibt es nicht auf dem größten Außenposten der Menschheit im All.

Aber wissenschaftliche Experimente im europäischen Columbus-Modul der ISS, die von Köln aus gesteuert werden, sind diesmal rund um Weihnachten und den Jahreswechsel nicht geplant. „Das ist ungewöhnlich und für uns ganz schön“, sagt Jean-Pierre Paul de Vera, Astrobiologe und Leiter des Musc: „So können unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Feiertage mal mit ihren Familien verbringen.“

Das Musc, im Englischen Microgravity User Support Centre, ist das Herz der DLR-Zentrale in Köln. Es ist die Schnittstelle zwischen Erde und All. Die Verbindung zwischen der Planung und Auswertung wissenschaftlicher Experimente hier unten sowie deren praktischer Ausführung dort oben – sei es auf der ISS oder auf Planeten, Monden, Kometen oder Asteroiden. Die Himmelskörper tragen uraltes Wissen in sich, das der Mensch mehr und mehr zu ergründen versucht.

Forschungsschub wie seit 50 Jahren nicht mehr

Es geht um Forschungsarbeiten in der Schwerelosigkeit des erdnahen Orbits sowie um Missionen in unser Sonnensystem. Beides erlebt aktuell weltweit einen Schub wie seit den Jahren rund um die erste (Juli 1969, Apollo 11) und bislang letzte (Dezember 1972, Apollo 17) bemannte Mondlandung nicht mehr. Deutschland ist als starker Partner im Nationen-Verbund der Europäischen Raumfahrtorganisation Esa diesmal mittendrin: mit den beiden auch medial sehr umtriebigen Astronauten Alexander Gerst und Matthias Maurer, mit weitreichender Forschung, mit Beteiligungen an Explorationen in unserem Sonnensystem.

Dabei fallen dem DLR-Standort in Köln viele spannende Aufgaben zu. Grund genug, den Porzer Wissenschaftlern etwas intensiver über die Schultern zu blicken. Was wird hier von wem erforscht? Wie weit ist man bei der Erkundung des Alls? Was hilft die Forschung da oben uns Menschen hier unten? Welche Missionen stehen als nächstes an, welche Visionen haben die Experten für die Zukunft – da oben im Weltraum und hier unten auf der Erde? In unserer in lockerer Folge erscheinenden Serie „Kölner Weltraumgeflüster“ gehen wir diesen Fragen auf den Grund und stellen die vielfältige Forschungsarbeit am hiesigen DLR-Standort vor.

Ersten Spatenstich in Porz setzte Franz Josef Strauß

Das Hauptquartier des DLR liegt etwas unscheinbar im Süd-Osten von Köln, umgeben vom Grün der Wahner Heide in unmittelbarer Nähe zum Flughafen. Hier setzte Franz Josef Strauß 1959 auf dem Gelände der ehemaligen Dynamitfabrik Wahn den ersten Spatenstich, er war damals Bundesverteidigungsminister. 1953 hatten die Siegermächte die nach dem Zweiten Weltkrieg verhängte Sperre, Luftfahrtforschung zu betreiben, aufgehoben – und nun war das Interesse von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik groß, im Nachkriegsdeutschland wieder eine moderne Forschungsanstalt für die Luftfahrt zu etablieren. Heute hat das DLR gut 10.000 Mitarbeiter an 30 Standorten, es wird in 54 Instituten und Einrichtungen geforscht, dafür stehen 189 Großforschungsanlagen zur Verfügung und vier Auslandsbüros in Washington, Paris, Brüssel und Tokio. Die Finanzierung erfolgt über Mittel des Bundes und der Länder, außerdem werden – etwa aus der Industrie – Drittmittel eingeworben und Erträge durch Dienstleistungen erzielt.

In Köln beschäftigt das DLR rund 1850 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, man ist in den Forschungsbereichen Luftfahrt, Raumfahrt, Verkehr, Energie und Sicherheit tätig. Es gibt Großversuchsanlagen wie Windkanäle, Triebwerks- und Materialprüfstände und einen Hochflussdichte-Sonnenofen. Außerdem sitzen der DLR-Vorstand und die zentrale Verwaltung in Köln. Auf dem 55 Hektar großen Gelände ist auch das Astronautenzentrum Eac der Esa angesiedelt. Zudem ist die Luftwaffe am 2023 eingeweihten Kompetenzzentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin beteiligt. Dort werden die Kräfte des DLR-Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin und des entsprechenden Zentrums der Luftwaffe gebündelt.

Jean-Pierre Paul de Vera, Astrobiologe und Leiter des Musc, guckt in die Kamera.

Jean-Pierre Paul de Vera, Astrobiologe und Leiter des Musc

Jean-Pierre Paul de Vera leitet das Musc seit zweieinhalb Jahren. Den 50-Jährigen freut es, dass aktuell wieder so viel passiert in der Raumfahrt. „Wir Wissenschaftler würden ja gern ständig am Ball bleiben im Weltraum“, sagt er: „Aber die Aktivitäten werden getriggert von gesellschaftlichen Strömungen und politischen Entscheidungen.“ Länder wie Indien, China oder Japan setzen gerade mit eigenen Aktivitäten etablierte Weltraum-Nationen wie die USA und Russland gehörig unter Druck. Europa überzeugt angeführt von Deutschland, Frankreich und Italien mit wissenschaftlichem Knowhow und gut ausgebildeten Astronauten.

Die Ziele: Leben im All finden und den Mars erobern

So ist ein neuer Wettlauf entstanden, bei dem die Teilnehmer auf zwei Ziele zurennen: Leben im All finden und den Mars erobern. De Vera hält beides für möglich und sein größter Traum ist es, beides noch zu erleben. Warum? „Das ist die typische Neugier des Menschen“, sagt der Astrobiologe: „Er möchte wissen, woher er kommt, wohin er geht, warum er überhaupt da ist. Das sind Fragen, die die Menschheit seit Anbeginn begleiten.“ Aber ist es gerechtfertigt, als Gesellschaft viel Geld für die Hoffnung auf Antworten auszugeben? De Vera antwortet mit einer Gegenfrage: „Ist es gerechtfertigt, Waffen zu kaufen und Menschen umzubringen?“

Als Astrobiologe sucht de Vera nach Leben im All. Mit kleinen grünen Männchen hat das aber rein gar nichts zu tun. Erstmal geht es noch um Grundlagenforschung, da kommt das Musc in Köln ins Spiel. Und dann wird vielleicht wahr, was in der Kultserie „Star Trek“ noch Science-Fiction pur war. Ein funktionsfähiger „Tricorder“, ein Gerät, das Stoffe in Sekundenschnelle mit Lasertechnologie analysieren kann. „Das ist der Traum, den die Star-Trek-Leute in ihrer Science-Fiktion-Welt vorweggenommen haben, aber er ist nicht ganz abwegig“, sagt de Vera. Schafft es der Mensch dann noch zum Mars, könnte er dort mit diesem „Tricorder“, der heute als „Multispektrometer“ bezeichnet würde, ganz einfach die Umgebung scannen und herausfinden, ob sich dort Überreste von Leben befinden.

Bis es so weit ist, bedarf es aber noch einiger Zwischenschritte. So werden unter anderem im Musc in Köln Versuche auf der ISS vorbereitet, bei denen in naher Zukunft irdische Proben außen an der Raumstation angebracht werden sollen. Man will wissen, wie sie sich unter Weltraumbedingungen verändern. Expositionsexperimente nennt man das. Das, was am Ende übrigbleibt, wird als weltraum-stabile, detektierbare Biosignatur bezeichnet. Diese wird in eine Datenbank eingespeist. Das Ziel: „Eine Annäherung an das, was wir erwarten können, wenn da draußen wirklich irgendwo Leben ist oder war“, sagt de Vera. So können irdische Geräte vielleicht irgendwann Leben im All erkennen. „Zumindest Leben, wie wir es kennen“, schränkt der Wissenschaftler ein.

Herstellung von Beton in der Schwerelosigkeit wird getestet

In anderen Versuchen geht es zum Beispiel um Nutzpflanzen im All. Wie können sie unter Weltraumbedingungen Nahrung produzieren? Das wäre wichtig für eine mögliche Mondbasis oder die Reise von dort zum Mars. In Experimenten aus dem Bereich der Materialkunde wird etwa die Herstellung von Metalllegierungen oder Beton in der Schwerelosigkeit getestet. Die Astronauten auf der ISS führen die Experimente in der entsprechenden Apparatur im europäischen Columbus-Modul durch und sind dabei im ständigen Kontakt mit dem Bodenpersonal in Köln. Dort stehen identische Anlagen, an denen die Durchführbarkeit der Versuche getestet worden ist und an denen Lösungen erarbeitet werden können, wenn die Astronauten im All nicht weiterkommen.


WELTRAUMMISSIONEN, AN DEREN STEUERUNG DAS MUSK BETEILIGT WAR:

Rosetta, 2004 bis 2016: Am 2. März 2004 startete die Weltraumsonde Rosetta und war gut zehn Jahre unterwegs, bis sie am 6. August 2014 den Orbit des Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko erreichte. Im Gepäck hatte Rosetta den maßgeblich vom DLR gebauten Lander Philae, dessen gewagte Landung vom kleinen Kontrollzentrum am Musc in Köln gesteuert wurde und der auf dem Kometen während der zwei Jahre lang dauernden Mission wissenschaftliche Daten erhob.

Hayabusa2, 2014 bis 2020: Das DLR war mit dem Lander Mascot an der Asteroiden-Mission der japanischen Weltraumagentur beteiligt. Er wurde im Oktober 2018 auf dem Asteroiden (162173) Ryugu abgesetzt und von Köln aus gesteuert. Der Lander sammelte 17 Stunden lang Daten von der Asteroiden-Oberfläche.

InSight, 2018 bis 2022: Eine Mars-Mission der amerikanischen Weltraumagentur Nasa, zu der das DLR ein Experiment zur Ermittlung des Wärmeflusses im Marssediment beisteuerte, genannt HP3 (Heat Flow and Physical Properties Package). Mit einer sich fünf Meter tief in den Marsboden hämmernden Sonde wurde die Wärmeleitfähigkeit des Bodens unter der Landestelle gemessen sowie die Wärmemenge bestimmt, die vom Inneren des Mars an die Oberfläche strömt.


Und was haben wir hier unten auf der Erde von diesen Experimenten? „Viel“, sagt de Vera. Denn aller für die Raumfahrt erdachte Fortschritt sei auch auf der Erde nutzbar. Man entwickele „Technologien für eine nachhaltige Zukunft“. Im Fall der Nahrungsmittelproduktion könne man etwa Rückschlüsse für die Landwirtschaft auf der Erde ziehen. Seien die Pflanzen erstmal widerstandsfähig genug, um im All Erträge zu liefern, könnten sie das auch in den extremeren Regionen der Erde. Oder dort, wo der Klimawandel die Bedingungen verschlechtert hat.

Bei der Suche nach Leben im All gehe es auch um die Suche nach unserem Ursprung, sagt de Vera. „Und dabei lernen wir etwas über die Zellen generell.“ Das wiederum könne Fortschritte in der Medizin bringen. Und spannende Erkenntnisse. Etwa diese: „Wir verteufeln im Allgemeinen das Gros der Bakterien und Viren, aber sie sind entscheidend für uns, für die Evolution, dass wir uns weiterentwickeln, dass sich das Leben generell weiterentwickelt. Nur verhältnismäßig wenige von denen sind tatsächlich schädlich für uns“, erklärt de Vera.

Suche nach Leben auf den Eismonden

Mit Spannung sieht der Astrobiologe geplanten Bohrungen auf den Eismonden von Jupiter und Saturn entgegen. Aktuell wird eine Schmelzsonde in der Antarktis getestet, die frühestens in den späten 2030er Jahren im All eingesetzt werden soll. Man will durch die Eiskruste der Monde zu deren in der Tiefe vermuteten Ozeanen gelangen und versuchen, Spuren von Leben zu finden. Dahinter, erklärt de Vera, stecke die große Frage: „Sind die Eismonde lebensfreundlich, beherbergen sie vielleicht sogar Leben?“ Genauso spannend sei die Frage: „Woher kommt das Leben?“ Antworten dazu können Missionen zu Asteroiden und Kometen liefern, auch an solchen war und ist das Musc beteiligt.

Zu Beginn unseres Sonnensystems sei ja einiges durcheinandergegangen und verschiedenste Brocken im All seien miteinander kollidiert, sagt de Vera. Vielleicht gelangten die Moleküle, die Leben möglich machten, durch Kometen und Asteroiden bei einem dieser Zusammenstöße auf die Erde. Und vielleicht gibt es sie noch irgendwo anders im All.

Der zweite große Bereich des Musc neben der Betreuung wissenschaftlicher Experimente aus den Bereichen Lebens- und Materialwissenschaften auf der ISS ist die Steuerung von Explorationen im Sonnensystem (siehe Infokasten). Das passiert im zweiten, etwas kleineren Kontrollraum. Aktuell herrscht auch hier Feiertagspause. Aber schon bald steht die Marsmondmission MMX an. Dabei wird eine japanische Raumsonde den deutsch-französischen Rover „Idefix“ mitführen, der auf dem Marsmond Phobos landen und die Oberfläche für mehrere Monate erforschen soll. Dann wird im Kölner Kontrollraum reger Betrieb herrschen, ebenso wie bei den französischen Kollegen in Toulouse. „Die Brocken rund um den Mars können Aufschluss geben, was in der Entstehungsphase unseres Sonnensystems passiert ist“, sagt de Vera.

Der Weg aller Mondreisenden führt künftig wohl über Köln

Zukünftig wird das Musc auch mit für den Betrieb der neuen Mondhalle Luna zuständig sein, die aktuell auf dem Kölner DLR-Gelände gebaut wird. Die von Esa und DLR gemeinsam betriebene Forschungshalle soll der Simulation und Vorbereitung von Mondmissionen dienen. Die Rückkehr zu unserem Erdtrabanten ist ein erklärtes Ziel der internationalen Raumfahrt, diesmal sollen dort aber nicht nur einige Schritte absolviert werden. Geplant ist der Bau einer Mondstation, in der geforscht und gelebt werden kann und die als Basis für Reisen zum Mars dienen soll. In Luna werden die besonderen Umweltbedingungen des Mondes realitätsnah simuliert, bessere Trainingsbedingungen wird es weltweit nicht geben. Damit führt der Weg aller Mondreisenden künftig wohl über Köln.

Fest steht: Die Zusammenarbeit der Menschen in der Raumfahrt klappt weit besser als bei irdischen Dingen. Bestes Beispiel ist die ISS, die seit 1998 von den Weltraumagenturen der USA, Russlands, Europas, Japans und Kanadas betrieben und weiterentwickelt wird, es sind 16 Staaten beteiligt. Der aktuellen Besatzung gehören drei Russen, zwei Amerikanerinnen, ein Däne und ein Japaner an. 2014, als der deutsche Astronaut Alexander Gerst zum ersten Mal auf der ISS war und die breite Öffentlichkeit an seinen Erlebnissen teilhaben ließ, inspirierte das die Musiker Sido und Andres Bourani zu ihrem Lied „Astronaut“. Der Song wurde zum Nummer-eins-Hit und landete bei Gersts zweiter ISS-Mission 2018 auf seiner Playlist für den Start.

Hier ein Ausschnitt aus dem Songtext: „Fast acht Milliarden Menschen, doch die Menschlichkeit fehlt. Von hier oben macht das alles plötzlich gar nichts mehr aus. Von hier sieht man keine Grenzen und die Farbe der Haut.“

Heute wirkt der Text aktueller denn je. Kriege und Krisen bestimmen das Geschehen auf der Erde, der Umgangston der Menschen untereinander wird immer rauer, das Misstrauen größer. „In der Raumfahrt dagegen weiß jeder, dass die Expertisen weit gestreut sind in der Welt“, sagt de Vera. Also lerne man voneinander und teile sich die Aufgaben: „Das passiert unabhängig von Herkunft, religiösen Ansichten, Geschlecht oder Hautfarbe. Der Reichtum der Menschheit ist groß, wir können über die Grenzen unserer Kulturen hinweg zusammen etwas Großartiges bewirken.“

Jean-Pierre Paul de Vera ist Mensch. Visionär. Vater einer sechsjährigen Tochter. Aber eben auch Wissenschaftler. Deshalb hat er noch einen pragmatischen Denkanstoß aus seinem Forschungsbereich in petto: „Wenn wir Menschen mal nicht mehr als komplexe Lebensform existieren, wenn unser Planet auseinanderfällt – Mikroorganismen wie Viren und Bakterien werden überleben.“ De Vera ist überzeugt, dass Leben in dieser kleinsten Form auch Millionen von Jahre überdauern und durchs All reisen kann. So lange, bis es wieder auf geeignete Bedingungen trifft, um sich zu entfalten. „Dann“, sagt de Vera, „könnte von Neuem eine Evolution los gehen.“

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