20. Geburtstag des Melt-FestivalsEkstase unter den Riesenbaggern

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Melt 2017

Die Bagger und Absetzer aus dem ehemaligen Braunkohlekombinat Bitterfeld bilden die Kulisse für das Melt-Festival. 

Gräfenhainichen – 4.18 Uhr am Morgen ist eine problematische Uhrzeit, wenn du, aus welchen Gründen auch immer, wach liegst und keine Ruhe findest. „Schlaflos in London“ (just zu dieser Minute, 4.18 AM) ist das Leitmotiv auf dem aktuellen Album der britischen Beat-Poetin Kate Tempest, die am Wochenende auf dem Melt-Festival in Gräfenhainichen (Sachsen-Anhalt) vorbeischaute, zu einer zivilen Bühnenzeit abends um halb elf übrigens. Das Festival vor spektakulärer Industriekulisse – fünf riesige, nach Anbruch der Dunkelheit illuminierte und mit Discokugeln verschönte Bagger und Absetzer aus dem ehemaligen Bitterfelder Braunkohlenrevier – hat naturgemäß nichts gegen verschärften Schlafentzug einzuwenden.

Eine Bühne heißt auch so („Sleepless Floor“), beim Jubiläums-Melt legten dort DJs dreieinhalb Tage lang ununterbrochen auf, bis zum Montagmittag. Da erscheint es durchaus sinnvoll, dass das Bargeld-Zeitalter auf dem Melt-Gelände vorbei ist. Bezahlt wird ausschließlich mit dem Guthaben, dass die Besucher vorab auf einen Chip im Einlassarmband geladen haben – das verringert die Gefahr, im verpeilten oder übermüdeten Zustand seine Geldbörse zu verlieren.

Ein euphorischer Ausreißer nach dem anderen

Vielleicht ist es nur Zufall, doch die auffälligsten Shows spielen beim Melt 2017 zwei Bands, die fast genauso alt sind wie das Festival selbst. Soulwax aus Belgien füllen die Bühne mit fünf Keyboard-Arbeitsplätzen (überwiegend klobige, vordigitale Gerätschaften) und drei Drum-Sets, es ist der Auftritt eines schwer schuftenden Kollektivs (alle mit weißen Hemden und schwarzen Hosen), in dessen repetitiven Trance-Pop-Nummern sich ein euphorischer Ausreißer an den nächsten reiht.

Wenn Stephen Dewaele für seine kurzen Gesangseinsätze nach vorne kommt, sieht er so aus, als ob er lieber unter einer Tarnkappe verschwinden würde, und erleichtert, wenn er sich danach wieder seinen Synthesizern zuwendet. Wenn die Keyboards leiser werden und die Percussionisten im Gleichklang eskalieren, dann ist die Soulwax-Ekstase perfekt.

Einschmeichelnde Melodien von Phoenix

Thomas Mars, der Sänger von Phoenix, ist deutlich extrovertierter unterwegs als Dewaele, das geht schon mit seinem Hemd mit dem auffälligen Palmen-Print los. Am Ende des Auftritts stürzt sich Mars mit einer eigenwilligen Technik in die Menge (wie ein Kraulschwimmer, dem das Wasser abhanden gekommen ist), von oben sieht man irgendwann nur noch die lange rote Mikrofonschnur. Das passt zu den Songs von Phoenix, die ja ebenfalls die ganze Welt umarmen wollen mit ihren einschmeichelnden Melodien und den chirurgisch präzisen Grooves.

Die Songs vom neuen Album „Ti Amo“ flirten mit dem Italo-Pop der 1980er Jahre, die beilläufige Eleganz von „Listzomania“ und „If I Ever Feel Better“ erreichen sie aber nicht wirklich. Während des Auftritts wirft eine Frau auf der Tribüne kiloweise Konfetti auf die Umstehenden. Die Papierschnitzel nerven kolossal, doch wer wollte sich bei jemandem beschweren, der ein selbstgemaltes Schild mit der Aufschrift „Good Vibes Only“ hochhält. Dass schlechte Schwingungen strikt verboten sind, kann man als Fazit des Melt durchaus so stehen lassen.

Sohn mit betörender Kopfstimme und ohne Auto-Tune

Für die besten Vibes sorgt in Ferropolis das britische Neo-Soul-Wunder Christopher Taylor alias Sohn. Der Mann mit dem breitkrempigen Hut und der betörenden Kopfstimme spielt seine komplexen Studiotüfteleien live mit zwei weiteren Keyboardern und einem Drummer, oszilliert zwischen brüchigen Klavierballaden und einer fast schon Pink-Floyd-artigen Opulenz. Was andere Electro-Acts von ihm lernen können: Auto-Tune einfach mal abschalten!

Während Sohn eine glänzende Zukunft vor sich hat, scheint die beste Zeit der Kills vorbei zu sein. Zwar ist Sängerin Allison Mosshart mit wehenden blau-blonden Haaren, schwarzer Lederhose, hochhackigen Stiefeln und Zigarette im Mund das Indierock-Postergirl par excellence und ausgesprochen charismatisch, doch das musikalische Konzept – die Äquidistanz zwischen White-Stripes-Minimalismus und eher bräsigem Stadionrock – hat sich nach fünf Studioalben schon ein bisschen abgenutzt.

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