70. Kurzfilmtage OberhausenGegen die Debatten der Cancel-Culture helfen vielleicht nur Bilder

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Ein Motorardfahrer brettert durch die Landschaft.

„Gladiatori (Gladiatoren)“ von Frantisek Papousek läuft im Sportfilmprogramm der 70. Kurzfilmtage Oberhausen

Die Kurzfilmtage Oberhausen feiern Geburtstag in der Krise. Auch im Schatten unproduktiver Debatten gibt es gute Filme zu entdecken.

Die Leinwand bleibt schwarz, und das nicht, weil die Oberhausener Kurzfilmtage noch eine Absage in letzter Minute bekommen hätten. Der in Berlin lebende Filmkünstler Bjørn Melhus, seit drei Jahrzehnten ein Veteran des Festivals, hat die fünf Minuten von „[Dramatic Music Continues]“ aus sogenannten Audiotranskriptionen komponiert. Hörbehinderten vermitteln solche Untertitel akustische Informationen jenseits des Dialogs, er hat sie Kriegsfilmen entnommen: „Entfernter Donner“, „Donnerndes Rumpeln“, „Ein Bombenticker piept“. Dazu hört man stets das gleiche, unangenehme scharfe Rauschen, doch je nachdem, von welchem Geräusch wir gerade lesen, horchen wir kurz auf, als habe sich der Klang verändert.

In der Filmwissenschaft spricht man – nach dem russischen Stummfilmavantgardisten, der ihn entdeckte – vom Kuleschow-Effekt: Diese Fähigkeit des Publikums, Filmbilder allein durch ihren Kontext unterschiedlich zu deuten, ist auch ein beliebtes Mittel medialer Propaganda, die in Zeiten von Fake News und KI einen Boom erlebt. Zugleich löschen die Kriege der Gegenwart, und daran erinnert Melhus‘ Film wohl zuallererst, ihre sichtbaren Beweise aus. 97 Journalisten, darunter zahlreiche Fotografen, sind im Gazakrieg bereits getötet worden, mehr als in den 30 Jahren des Vietnamkriegs. So bleiben auch potentielle Kriegsverbrechen unsichtbar.

Die Kurzfilmtage haben mehr als jede andere deutsche Institution dazu beigetragen, bewegte Bilder zu verstehen

In seinen 70 Jahren, die das Oberhausener Festival jetzt vollendet, hat es wohl mehr als jede andere deutsche Institution dazu beigetragen, bewegte Bilder zu verstehen. Gegründet 1954 von Hilmar Hoffmann, dem später wohl einflussreichsten Kulturpolitiker der Republik, spielte es in den 80er Jahren – unter der Leiterin Karola Gramann – eine wichtige Rolle in der Etablierung der Kulturtechniken von feministischer Kinoarbeit und Video. Lars Henrik Gass schließlich, Direktor seit 1997, führte unter anderem den Musikvideopreis „Muvi“ ein und engagierte sich für die Bewahrung des Filmerbes. Sein beim Amtsantritt formuliertes Motto „Ich weiß nicht, was der Kurzfilm ist“ stand lange für ästhetische Offenheit. Zuletzt aber schienen politische Diskurse das Interesse an dieser besonderen Kunstform zu überlagern.

Drei zum Teil lieblos auf Video überspielte Archivschätze aus dem diesjährigen Themenschwerpunkt „Sport“ waren die einzigen kurzen Filme am Eröffnungstag. Den dominierte eine Tagung, die unter dem Titel „Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit“ um die Auswüchse der „cancel culture“ kreiste, laut Einladungstext einem „durch rechte Akteure eingeführten Begriff“. Eine irritierende Einordnung, schließlich stammt das Wort aus der afro-amerikanischen Protestbewegung und wurde – ebenso wie das umstrittene „woke“- erst später von Rechten gekapert.

Tatsächlich wurden Fälle, in denen oft jüdische Künstler und Wissenschaftler in Deutschland Ausstellungen, Professuren oder Ehrungen verloren, international zu einem Medienthema. Begründet meist mit früher geäußerter Kritik an der israelischen Regierungspolitik, weckten diese Absagen in den Kultursektionen vom britischen „Guardian“ bis zur „New York Times“ Sorgen um die deutsche Meinungsfreiheit. Bei der Diskussion war das Gespräch mit diesen Ausgegrenzten jedoch nicht gesucht. „Wir werden nie eingeladen“, erklärt die jüdische Südafrikanerin Candice Breitz gegenüber dieser Zeitung, „man spricht über uns, aber nicht mit uns.“

Erst am vergangenen Wochenende startete sie eine Petition um die saarländische Ministerpräsidentin Streichert-Clivot aufzufordern, die Gründe für die Absage der geplanten Breitz-Ausstellung im Saarlandmuseum offenzulegen. Unter den Teilnehmern eines Oberhausener-Panels zum Kulturbetrieb herrschte hingegen Einigkeit darüber, dass Breitz für den BDS unterschrieben hätte, jene anti-israelische Boykott-Bewegung, von der sie sich öffentlich distanziert.

Echte und künstliche Hände greifen ineinander.

„Decryption“ der israelischen Künstlerin Maya Zack läuft im Internationalen Wettbewerb der 70. Kurzfilmtage Oberhausen

Auch die Kurzfilmtage sehen sich in Folge eines Internet-Protestbriefs von einem Akt des „cancelling“ betroffen, was den Anlass zur Tagung gab: Etwa 1800 Unterzeichner aus der Kurzfilmszene gingen darin auf Distanz zum Festival, in Reaktion auf eine Formulierung von Gass in einem Facebook-Posting vom 20. Oktober 2023, die als rassistisch kritisiert wurde: „Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind“, hatte Gass da in einen Appell zu einer Pro-israelischen Demonstration geschrieben. Das gegnerische Schreiben hatte offenbar genug Wirkung, dass zahlreiche internationale Vertriebsfirmen ihre Festivalteilnahme absagten und Löcher ins Programm rissen, die vom Festival anderweitig gefüllt wurden. Namen einzelner Filmemacher, die absagten, nennt das Festival jedoch nicht. Auch bei der Tagung war kein Dialog mit den Kritikern vorgesehen, als teile man selbst die „Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit“.

Eine Künstlerin, die aus Protest ihren im letzten Jahr gezeigten Film aus dem Verleih der Kurzfilmtage nahm, ist die junge israelische Filmemacherin Maya Klar, die in Berlin lebt. „Mein Film ‚Two Hours a Day‘ handelt unter anderem von meinem Gefühl der Entfremdung als Migrantin in Deutschland“, erklärt sie ihre Entscheidung. „So fand ich die rassistischen Untertöne in dem Festival-Statement besonders verstörend, nicht nur offensiv gegenüber Palästinensern, Arabern und Muslimen, sondern auch Juden und Israelis. Als Jüdin, die sich nach einer friedlichen Zukunft in Israel-Palästina sehnt, finde ich, dass ein solches Statement von den höchsten Autoritäten in der Film- und Kulturszene kritisiert werden sollte.“

Auch das am vergangenen Wochenende zu Ende gegangene, konkurrierende Osnabrücker European Media Arts Festival, litt, wie schon die Berlinale, unter einzelnen Absagen im Umfeld der „Strike Germany“-Bewegung. Doch anders als Oberhausen nannte man die Namen der Abwesenden, ließ die Leerstellen offen, und äußerte die Hoffnung auf künftige Zusammenarbeit. Zugleich bekannte man sich in einem „Code of Conduct“ zum Kampf gegen den Antisemitismus nach der Definition der „Jerusalemer Erklärung“.

Es scheint, als ob die Festival-Leitung in der ohnehin schon aufgeheizten Debatte bewusst weiter polarisieren möchte
Bjørn Melhus

Wer sich dagegen jetzt für die Kurfilmtage online eine Karte bucht, muss zuvor ein Bekenntnis zur IHRA-Antisemitismus-Definition anklicken, in der von der Bundesregierung erweiterten Fassung, mit der Berlins Kultursenator Joe Chialo gescheitert ist. Das führte in den letzten Wochen zu weiterer Kritik. Besonders von linken jüdischen Stimmen wird sie abgelehnt, weil sie, wie es der israelische Historiker Moshe Zimmermann formuliert, erlaube, „jede Art von Kritik an Israel als antisemitisch zu bezeichnen.“ Auch eine andere Festivalentscheidung polarisiert: Als Text einer Werbekampagne auf der Webseite „ruhrbarone.de“ ist zu lesen: „Pro-zionist rated by BDS“. Dabei scheint es eine Veröffentlichung dieser anti-israelischen Boykott-Kampagne zu Oberhausen nicht zu geben, auf eine entsprechende Anfrage lieferte das Festival keinen Beleg. Auch die Zusammenarbeit mit der Bochumer Webseite irritiert. 2018 postete ihre der Gruppe der „Antideutschen“ zugerechnete Redaktion auf Facebook den Slogan „Transform Gaza to Garzweiler“ – laut Meron Mendel dem Direktor der Bildungsstätte Anne Frank eine „explizite Vernichtungsfantasie“.

Bjørn Melhus nennt die IHRA-Definition „hochproblematisch“. „Noch problematischer finde ich die Anzeige. Es scheint, als ob die Festival-Leitung in der ohnehin schon aufgeheizten Debatte bewusst weiter polarisieren möchte. Dass man mit all dem einen sicheren Raum für jüdische Besucher schafft, stelle ich mal infrage. Ich kann das alles nicht nachvollziehen. Ich habe dem Festival angeboten, meinen Film aus dem Programm zu nehmen, da ich diese Form der Gesinnungsprüfung nicht unterstütze. Ein Boykott meinerseits kommt für mich jedoch nicht infrage, da ich jegliche Boykott- und Cancelkultur zutiefst verabscheue. Egal von welcher Seite. Das ist eine toxische binäre Logik und hilft uns gesellschaftlich nicht unbedingt weiter. Es braucht einfach andere Wege.“

Auch die Tagung schien nicht geeignet, die Wogen zu glätten. Zwei Referenten plädierten immerhin für die heilenden Kräfte des Diskurses. Die am Institut für Sozialforschung arbeitende Soziologin Alexander Schauer nannte Streit als entscheidend für jede Öffentlichkeit. Und der emeritierte Wuppertaler Rhetorik-Professor Bazon Brock mahnte, Kultur und Kunst nicht in einen Topf zu werfen. Erstere führe in die Barbarei, letztere existiere nur in Freiheit.

„Der Weg zum Nachbarn“, Leitsatz der Kurzfilmtage, hat nichts von seiner Aktualität verloren

„Der Weg zum Nachbarn“, der von seinen Gründern geprägte Leitsatz der Kurzfilmtage, hat dagegen nichts von seiner Aktualität verloren. Was ist dringlicher geboten in einem Land, bei dem bei Umfragen regelmäßig einem Fünftel seiner Bevölkerung antisemitisches Gedankengut festgestellt wird, als der Kampf gegen Antisemitismus? Anders als auf der Biennale in Venedig sind in Oberhausen jedenfalls glücklicherweise keine Stimmen für einen anti-israelischen Kulturboykott laut geworden. Demonstranten waren nicht zu sehen, und ein Polizist bestätigte am Abend: „Wir hatten hier einfach überhaupt nichts zu tun.“

Maya Zack, die ihre Filme hauptsächlich in Kunstmuseen zeigt, ist aus Tel Aviv zum Festival angereist. Wie in ihrer vielbeachteten, 2016 entstandenen filmischen Annäherung an Paul Celan, „Counterlight“, widmet sich auch ihr neuer Film „Decryption“ dem Thema Erinnerung. An den Schnittstellen zwischen Zeichnung, Performance und Kino findet sie ihre Bilder dort, wo Worte an ihre Grenzen stoßen. Nun betritt sie den Raum des Privaten im Dialog mit ihrer früh verstorbenen Mutter – und lässt ihre Arbeit dadurch nur noch zugänglicher erscheinen.

Ein vor der Kamera entstehendes, zeichnerisches Selbstporträt scheint dabei mit einem hinterlassenen Foto der Toten in eine Beziehung zu treten, während die Buchstaben eines hebräischen Gedichts aus Papier geschnitten werden und zusammen finden. Was Zack hier evoziert, ist das universelle Gefühl, das Reich des Verlorenen zu betreten. Man spürt die Angst, entfernte Erinnerungen zu berühren als könnten sie zerbrechen, so plötzlich und schmerzhaft wie Glas in der Hand. Wer die Frage beantworten möchte, was der Kurzfilm ist, findet sie in diesem preiswürdigen Film beantwortet. Zacks Werk setzt inhaltlich und formal da an, wo in der prägenden Zeit des Festivals Alain Resnais seine Essayfilme ansiedelte.

Beglückend, wenn auch auf leichtere Art, ist im Deutschen Wettbewerb der neue Film von Ann Oren. Ihrem Spielfilm „Piaffe“, der im vergangenen Jahr in den Kinos lief, lässt die in Berlin lebende, aus Israel stammende Regisseurin diesen Nachschlag folgen wie den Ableger einer seltenen Pflanze. Abermals begegnet uns ihre Protagonistin, eine Klangkünstlerin, die Pferdegeräusche vertont und dabei ein Bewusstsein jenseits der menschlichen Körperlichkeit entdeckt. Befreit von der erzählerischen Funktion eines Spielfilms erreicht Oren, eine Meisterin auch am Schneidetisch, eine noch feinere Musikalität.

Die Kurzfilmtage Oberhausen, in den 70 Jahren ihrer Geschichte haben sie sich stets als ein Festival der Toleranz definiert. Am lebendigsten zeigt sie sich wohl in den nächsten Tagen auf der Leinwand.

70. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, bis 6. Mai 2024

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