Die Oscar-AnalyseMännertränen lügen nicht - oder vielleicht doch?

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Regisseur Edward Berger (vorne) nimmt den Preis für «Im Westen nichts Neues» aus Deutschland für den besten internationalen Spielfilm bei der Oscar-Vverleihung im Dolby Theatre in Los Angeles entgegen. Hinten stehen Daniel Brühl (l-r), Malte Grunert, Albrecht Schuch, Felix Kammerer, Antonio Banderas und Salma Hayek.

Edward Berger (vorne) nimmt einen Oscar für „Im Westen nichts Neues“ entgegen.

Die Deutschen sind wieder wer und Männer dürfen auf offener Bühne Gefühle zeigen: die wichtigsten Lehren aus der Oscar-Verleihung 2023. 

So waghalsig hatte die Oscar-Zeremonie lange nicht mehr begonnen. Jimmy Kimmel, Moderator des Abends, beförderte sich per Schleudersitz aus einem von Tom Cruise gesteuerten Kampfflugzeug und landete am Fallschirm auf der Bühne. Es war der überfällige Dank an den Mann, der, so Kimmel, ganz Hollywood vor dem Absturz gerettet hatte, weil er sich während der Corona-Pandemie standhaft weigerte, seinen Film bei einem Streaming-Anbieter herauszubringen. Stattdessen begann mit „Top Gun: Maverick“ die Renaissance der lange geschlossenen Kinos.

Ganz ohne Netflix und Konsorten kommt allerdings auch die Selbstfeier der US-Filmindustrie nicht mehr aus. Kimmel würdigte die unliebsame Streaming-Konkurrenz mit dem besten Witz seines Eröffnungsmonologs. Anders als vergangenes Jahr hole man jetzt wieder sämtliche Oscar-Gewinner leibhaftig auf die Bühne, statt die unwichtigen unter ihnen vorab zu prämieren. Mit einer Ausnahme: Soeben sei „Im Westen nichts Neues“ zum besten Film gekürt worden.

Ein historischer Abend für den deutschen Film

Die deutsche Netflix-Produktion wurde dann doch nicht zum Gewinner des Abends – obwohl die vier Oscars zwei mehr waren, als ihr die meisten Experten zugetraut hatten. Die Auszeichnung für den besten internationalen Film war als „Trostpreis“ für den neunmal nominierten Weltkriegsfilm ebenso erwartet worden wie die Auszeichnung für den britischen Kameramann James Friend. Im Laufe der Zeremonie kamen Oscars für die Ausstattung und die Filmmusik hinzu und komplettierten einen für die deutsche Filmkunst historischen Oscarabend. Die eigens angereiste Kulturstaatsministerin Claudia Roth darf mit dem guten Gefühl heimkehren, dass das deutsche Filmhandwerk wieder goldenen Boden hat – sofern es mit einem globalen Megakonzern paktiert.

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Trotz dieses Erfolgs blieb den Streaminganbietern am Oscarabend abermals nur der Katzentisch. Die Filmakademie feierte lieber den Film einer „kleinen“ Produktionsfirma, A24, die schon in der Vergangenheit mit originellen, für Hollywood-Verhältnisse gewagten Filmen aufgefallen war. Vor einigen Jahren hätte „Everything Everywhere All at Once“ wohl bestenfalls Außenseiterchancen gehabt. Aber die wilde Mischung aus Multiuniversums-Fantasie, Familiendrama und Prügelorgie entwickelte sich im Krisenjahr zum Lebensretter der Filmkunstkinos und profitierte am deutlichsten von der radikalen Selbstverjüngungskur der Academy.

Sieben Oscars gingen an den Film des Regieduos Daniel Kwan und Daniel Scheinert, darunter für die beste Regie, das beste Originaldrehbuch und drei von vier Darstellerpreisen. Michelle Yeoh wurde als beste Hauptdarstellerin (und erste Asiatin in dieser Kategorie) geehrt, Ke Huy Quan und Jamie Lee Curtis als Nebendarsteller. Auch dies waren nicht die üblichen Kandidaten, sondern lange übersehene Veteranen ihrer Zunft. In der Schauspielkategorie war es ohnehin ein Abend der Comebacks: Brandon Fraser kehrte als übergewichtiger „Wal“ aus der Versenkung zurück und wurde nach einer Karriere im komischen Fach für seine Wandlung zum Charakterdarsteller geehrt.

Es mag Zufall gewesen sein, dass Jimmy Kimmel in seiner Eröffnungsrede besonders ausführlich über Steven Spielbergs Alterswerk „The Fabelmans“ gesprochen hatte. So blieb der Academy immerhin die Peinlichkeit erspart, den erfolgreichsten Regisseur der Filmgeschichte an diesem Abend gänzlich missachtet zu haben. In früheren Jahren wären die „Fabelmans“ eine ideale Gelegenheit gewesen, ein Prestige- und Herzensprojekt auszuzeichnen, das zugleich ein humanistisches Bekenntnis ist und das Kino als gemeinschaftsstiftende Traumwelt feiert. Aber die Zeiten haben sich geändert; die stimmberechtigten Mitglieder der Academy sahen all das auch in „Everything Everywhere All at Once“, nur eben in zeitgemäßer Form.

Lady Gaga trat in T-Shirt und beinahe ungeschminkt auf

Der zweite große Verlierer des Abends war die neunmal nominierte irische Tragikomödie „The Banshees of Inisherin“. Lediglich der Esel aus dem Film durfte auf die Bühne, und wie sich später herausstellte, wurde dieser auch noch von einem einheimischen Tier gedoubelt. Ansonsten sorgte ein ausgewachsener Kokainbär für kurzes Aufsehen und lieferte eine bessere Show als die traditionell verschlagerten Gesangseinlagen.

Lady Gaga trat „ganz natürlich“ in T-Shirt und beinahe ohne Schminke auf, nachdem sie noch im Versace-Kostüm über den erstmals champagnerfarbenen roten Teppich gelaufen war. Als bester Song wurde schließlich das schmissige „Naati Naatu“ aus dem indischen Historienmärchen „RRR“ ausgezeichnet; ein Film übrigens, dessen Macher die indische Freiheit offenkundig lieber mit einem zünftigen Superhelden-Gemetzel errungen hätten, als mit den „unmännlichen“ sozialen Protesten Mahatma Gandhis.

Männliche Gewaltfantasien hatten ansonsten wenig Platz auf der Bühne, obwohl Jimmy Kimmel eigens einen Oscar als bester Hauptdarsteller für jeden ausgelobt hatte, der vor laufender Kamera eine Prügelei anfängt. Stattdessen sah man viele gerührte, mitunter tränennasse Männer eine Oscar-Statuette entgegennehmen. Auf einen Trend zum weichen Mann zu schließen, wäre allerdings verfrüht. Dass Tränen lügen, gehört in Hollywood schließlich zum Geschäftsmodell, und mit den „Fabelmans“ ging der einzige gewaltlose Oscarfavorit gänzlich leer aus. 

Will Smith, der einschlägig bekannte Übeltäter des letzten Jahres, war gar nicht erst zur Verleihung erschienen. Ob er ebenso ausgeladen wurde wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj? Die Produzenten der Oscarshow hatten das Angebot einer Liveschalte aus Kiew dankend abgelehnt, weshalb viele im Publikum erleichtert gewesen sein dürften, dass wenigstens „Navalny“ über den in Russland inhaftierten Gegenspieler Putins als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde.

Auf diese Weise blieb der russische Krieg nicht ganz außen vor an einem Abend, der, anders als in Deutschland vielerorts erhofft, nicht im Zeichen sinnloser Schlachten stand. Immerhin gelten deutsche Regisseure in Hollywood weiterhin als Weltkriegs-Spezialisten – so erwachsen aus Niederlagen doch noch Siege.

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