André Rieu in der Kölner ArenaBeethovens musikalische Hinrichtung

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André Rieu in Aktion

  • In unserer neuen Serie „Was mach ich hier eigentlich?“ gehen unsere Kultur-Kritiker dorthin, wo es sie auf Anhieb nicht hinziehen würde, wo es ihnen vielleicht sogar persönlich wehtut. Dort werfen sie einen neugierigen Blick auf eine für sie fremde Welt.
  • Den Anfang macht Markus Schwering mit einem Besuch bei André Rieu in der Lanxess-Arena.
  • Dort erstaunt ihn so einiges – von virtuoser Augenbrauen-Gymnastik bis zur Hinrichtung von Beethovens „Ode an die Freude”.

Köln – Die ganze Welt ist himmelblau, und alle Menschen werden Brüder. Und die himmelblaue Welt (aus dem „Weißen Rössl am Wolfgangsee“), in der alle Menschen Brüder werden (Beethovens passend zur bevorstehenden Europawahl servierte Freudenmelodie), hat auch einen ungekrönten König, und der heißt André Rieu. Der geigende Entertainer aus Maastricht ist mit seinem Johann Strauß-Orchester in die nicht ausverkaufte, aber gut gefüllte Lanxess-Arena gekommen, um dort – nach einem Jahr, in dem er, wie er beifallträchtig mitteilt, ohn‘ Unterlass an „Kölle“ gedacht hat – ein vorwiegend jahrgangsälteres Publikum mit seinen zuckrigen Musikpralinen zu verwöhnen. 

Wie Rieus spätere Umfrage ergibt, stammt die Mehrheit der Ticketinhaber übrigens nicht aus Köln. Für mich ist der Besuch dieses Konzerts – ich sitze auf einem guten 110 Euro-Platz im Innenfeld – ein in mehrfacher Hinsicht besonderes Erlebnis. Als dem E-Musik-Kritiker dieser Zeitung gelten meine Profession und Neigung weder der Popmusik noch der von André Rieu repräsentierten sogenannten leichten Muse.

Kontrastverschärfend kommt hinzu, dass ich am Abend vorher in einem Konzert des Acht-Brücken-Festivals in der Philharmonie mit moderner E-Musik gewesen bin. Unter anderem erklang da, unter der Leitung des Komponisten, Péter Eötvös‘ Orchesterkomposition „Alle vittime senza nome“, die den tausendfachen Tod von Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa zum Gegenstand hat. Da war die Welt entschieden nicht himmelblau.

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Die Akteure in der Arena vermitteln eine recht klebrige Wellness-Atmosphäre.

Es ist also eine für mich neue, „andere“ Sphäre, in die ich in der akustisch wie atmosphärisch gewöhnungsbedürftigen Lanxess-Arena eintauche. Vor allem muss ich mich an die gnadenlos-vollendete Künstlichkeit des Events gewöhnen: Künstlich ist der synthetisierte, zugerichtete Sound, der von der Bühne kommt, künstlich ist der Plastik-Schnee, der passend zum „Schneewalzer“ von der Decke rieselt, künstlich in ihrem „Sound of Music“-Kitsch sind die Bilder von Alpenglühen und Wolfgangsee auf der rückwärtigen konkaven Leinwand. Und künstlich ist halt auch die leicht klebrige Wellness-Stimmung, die die Akteure vermitteln: Geht es mit rechten Dingen zu, wenn da einer rosé gewandeten Geigerin hinter ihrem Notenpult aus falschem Ro-koko über mehr als zwei Stunden nicht das nämliche festgefrorene Lächeln auf den Backen taut?

Warum sollte Kunst nicht künstlich sein?

Nun handelt es sich ja um Kunst (welche auch immer), und warum sollte Kunst nicht künstlich sein? Aber künstlich ist hier nicht nur die Kunst, sondern auch die Art ihrer Performance, die Show, in die sie eingemauert ist. Und André Rieu, ist der auch ein Kunstprodukt? Ich vermute es: Er führt eine Marke vor, und die heißt – „André Rieu“. Es ist wie mit seinem Geigenspiel, das man zwar sieht (er geigt oft die melodieführende Stimme des Orchesterparts mit), aber nicht hört, von dem man also nicht ganz sicher weiß, dass es wirklich stattfindet. Zwischen den einzelnen Takes erzählt er Anekdoten etwa von den russischen Musikern, die er im meterhohen Schnee (?) von Maastricht aufgelesen haben will.

André Rieu in der Kölner Lanxess-Arena

André Rieu in der Kölner Lanxess-Arena

Die drei mit den Namen Iwan, Victor und Sergej treten dann auch mit Balaleika, Akkordeon und eigentümlich maskenhaften Gesichtern auf, um die Sektion „russische Folklore“ (mit „Doktor Schiwago“ und „Kalinka“) zu bedienen. Einmal entgleist Rieus Moderation übrigens zu einer unvermuteten und deshalb umso spektakuläreren Sottise: Ein Glockenspieler wird tatsächlich gefragt, wo er denn „seine Glocken hängen“ habe. Nach der Pause beschwert sich Rieu mit virtuoser Augenbrauengymnastik (man kann sie auf den seitlichen Videoschirmen gut beobachten) ironisch über die zu spät in die Arena Drängenden. Dabei gibt es keinen Grund zum Unmut – schließlich hat es kein Signal zum Pausenende gegeben. Er ist also (wahrscheinlich) ein Fake.

Die Ticketkäufer, denen ebenfalls zumeist der kompromisslose Wille zu guter Laune in die Gesichter geschrieben steht und die entsprechend „mitgehen“, müssen das eigentlich wissen – und auch wissen, dass André Rieu es weiß. Solchermaßen entsteht – alle Menschen werden Brüder – eine spiralförmige Kumpanei des Imaginären, in der das Nicht-Authentische schon wieder eine authentische Qualität gewinnt. Ich denke unwillkürlich an Jean Baudrillards Theorie des Simulacrums – oder werfe ich da mit einer Atombombe nach Eichhörnchen?

Luftballon-Attacke aus der Höhe

Und die Musik selbst, die den Musikkritiker in erster Linie interessieren muss? Die Setlist umfasst immerhin 19 Nummern, die in genretypischer Häppchen-Manier vom Marsch bis zum Walzer, vom Jazz bis zum Schlager, vom Traditional bis zur Opernarie ein breites Spektrum des Eckenfrei-Gefälligen abdecken. Es dominieren einfache Strophen- und Refrainformen, und stereotype dynamische Steigerung (Trommelwirbel und Dacapo mit draufgesetztem Background-Chor) zeitigt jeweils eine Art von trivialisiertem Bolero-Effekt. Was nicht passt, wird passend gemacht: In Puccinis „Nessun dorma“ (hier verteilt auf drei Solo-Tenöre, später am Abend kommen auch noch drei Solo-Soprane) etwa wiederholt sich bis zum Sankt-Nimmerleinstag die ohrwurmige Sequenzstelle, die in „Turandot“ nur zweimal erscheint. Und geradezu als eine Hinrichtung des Originals empfinde ich die Rieu-Version von Beethovens „Ode an die Freude“ in der letzten Nummer. 

Was heißt hier letzte Nummer? Es folgen als Zugaben mindestens noch der Radetzkymarsch inklusive Luftballon-Attacke aus der Höhe und ein Walzer-Medley, zu dem die Lanxess-Arena animiert das Tanzbein schwingt. Ich befinde mich zu diesem Zeitpunkt aber bereits auf dem Rückzug Richtung Straßenbahn: So viel himmelblauer Frohsinn ist mir unheimlich.

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