Autor Saša Stanišić liest beim Festival „Literatur am Dom“ im Bergischen Land und plädiert dafür, trotz Ängsten und Krisen die Zukunft zu gestalten.
Autor Saša Stanišić„Heute würde meine Familie wahrscheinlich schon an der Grenze abgewiesen“

Sasa Stanisic bei der lit.Cologne 2024 in der Flora.
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Herr Stanišić, in Ihrem Buch „Möchte die Witwe...“ gibt es eine Episode, in der ein paar Jugendliche sich einem „Anproberaum“ für ihr Leben vorstellen. Dort kann man gegen Gebühr mögliche Zukünfte ausprobieren. Geniale Idee!
Im Grunde ist es ja vermessen zu glauben, dass man durch Änderungen in der Gegenwart die Zukunft beeinflussen kann, so dass sie besser für einen läuft. Man kann es natürlich versuchen. Aber wenn mir das jemand per Knopfdruck anbietet, fände ich es auch moralisch grandios daneben zu sagen: Ich überspringe quasi mein Leben und suche mir aus einem Katalog zehn geile Minuten aus, um dieses Leben dann zu leben. Das haben wir uns so gar nicht verdient. Ehrlich gesagt, ist das eine seltsame Utopie, die auch so ein bisschen egoistisch ist. Zu glauben, dass man eine Wahl hat. Wir haben eigentlich keine Wahl. Wir tun, was wir tun können, um für uns und für andere das Leben besser zu gestalten. Aber letzten Endes ist extrem viel von Zufall abhängig oder vom Wohlwollen anderer Menschen.
Was glauben Sie - hätten Sie als 16-jähriger Ihr eigenes Leben wie es heute ist eingeloggt?
Wir hatten damals als Flüchtlinge in Deutschland wirklich kein gutes Leben. Es war ein Kampf. Es war ein prekäres Leben. Wir sind immer am Rand der Armut entlang geschlittert, dazu die Angst, abgeschoben zu werden. Also wenn man mir damals diese zehn Minuten, egal aus welchem Moment meines heutigen Lebens, angeboten hätte - ich hätte diese ganzen Gedanken von wegen Egoismus ignoriert und gesagt: Ja, klar, ich nehme das! Wäre der zehnminütige Ausschnitt zum Beispiel von heute gewesen, dann hätte ich gesehen, wie ich auf meinem Sofa in meinem Haus sitze, ich gucke auf eine große Bücherwand und gebe ein Interview. Da würde ich doch als mein 16-jähriges Ich sagen: Klar, ich nehme das sofort!
Wir haben eigentlich keine Wahl. Letzten Endes ist extrem viel von Zufall abhängig oder vom Wohlwollen anderer Menschen.
Es sind keine guten Zeiten gerade für Flüchtlinge in Deutschland. Wie war es denn für Sie und Ihre Familie Ende der 90er?
Die 90er-Jahre waren krass: Die ganzen Nazi-Aufmärsche, ständig brannte irgendwo ein Asylwohnheim, es war eine konkrete Bedrohung in der Luft. Und wir Flüchtlinge wurden dämonisiert: Als Flut, die über Deutschland schwappt und die den Leuten alles wegnehmen will. Egal, woher man kam, man musste gegen extreme Vorurteile kämpfen. Was es aber gleichzeitig auch gab, war so eine Art Gegenbewegung, die dann im Kleinen stattgefunden hat. Und der ich auch tatsächlich verdanke, dass ich jetzt immer noch in Deutschland bin. Weil sich Menschen engagiert haben - und das passiert auch heute. Private Initiativen und Vereine, Ehrenamtler - die retten viel, was der Staat verkackt. Und wegen denen hatte ich das Gefühl, im Privaten gut angekommen zu sein. Aber wenn man die Nachrichten angeschaltet hat, brannte schon wieder irgendwo ein Haus und Leute sind gestorben. Wir hatten wirklich pure Angst - und vor der Abschiebung sowieso. Und heute? Würden wir wahrscheinlich schon an der Grenze abgewiesen.
Auch als Kriegsflüchtlinge?
Ich war vor ein paar Jahren mal in Heidelberg für eine Buchpräsentation von „Herkunft“, da haben wir nach unserer Flucht aus Jugoslawien gewohnt. Und da war auch der Leiter der dortigen Ausländerbehörde, der meinte, er hätte sich mal meine Akte angeguckt aus den 90ern. Ich habe mir das so vorgestellt, dass er einfach mal so im Keller war und dachte: Stanišić – mal gucken, was das so für einer war. Und er meinte zu mir: Wissen Sie, was, wenn Sie heute hierhin kämen - man hätte Sie knallhart abgeschoben. Das fand ich bemerkenswert. Dass er das zugibt. Und dass das Recht für den Aufenthalt hier in Deutschland offenbar noch restriktiver als damals geworden ist.
Die vielen Krisen, die düsteren Zukunftsaussichten lähmen viele eher als sie zum Handeln zu motivieren. Deswegen finde ich den Gedanken des Anproberaums für mögliche Zukünfte attraktiv. Als eine Art positive Utopie – im besten Fall.
Das ist tatsächlich auch ein Gedanke dahinter. Der Anproberaum ist eine Möglichkeit zu zeigen: Wenn ich eine positive Zukunft vor mir sehe, dann bin ich eher geneigt, in der Gegenwart Dinge zu tun, die diese Zukunft wahrscheinlicher erscheinen lassen und ziehe mich nicht zurück oder verfalle nicht in totalen Pessimismus. Er steht für die Möglichkeit, Zukunft zu schreiben, gemeinsam als Gesellschaft. Eine Zukunft, die nicht dystopisch sein muss, obwohl alle Weichen in diese Richtung gestellt zu sein scheinen. Die erlaubt, Hoffnung nicht als Kitsch zu behandeln, sondern als Teil der Handlungen jedes und jeder Einzelnen.
Den Rückzug ins Private literarisch beschreiben
Die Omnipräsenz von Krisen und Kriegen - wie gehen Sie damit als Schriftsteller um?
Es ist wirklich schwer, sich als Autor gerade abzuarbeiten an solchen großen Themen. Mein letztes Buch „Herkunft“ war zum Beispiel ein gesellschaftlich weitaus breiter angelegtes politisches Buch. Und die „Witwe“ habe ich danach bewusst ein bisschen kleiner konzipiert. Ich habe mich gefragt: Was gibt es an Krisen im Kleinen, im Privaten, von denen ich erzählen kann? Meistens werden die Episoden zum Beispiel von nur einer Person erzählt. Ob es jetzt die Witwe ist, eine Putzfrau in Wien oder eben auch der Junge, der mit seinen Freunden vom Zukunfts-Anprobierraum fantasiert. So gehen wir in einen konkreten Menschen hinein und ich mache da keinen so großen historischen oder globalen Aufriss. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass ich minimiere, anstatt zu maximieren.
Sehen Sie „Die Witwe...“ also als unpolitisches Buch?
Es ist schon politisch. Aber eben auf einer anderen Ebene. Für mich geht es um das Betrachten des Einzelnen in den Gewerken der Gesellschaft. Um die Frage, welche Art von Geschichten wir uns erzählen und wie wir dadurch auch das Handeln von anderen beeinflussen. Wenn man sich jetzt gerade die sozialen Medien anguckt, was da für ein Dschungel an Fake News und an Beeinflussungsversuchen stattfindet – das ist ja gar nicht mehr fassbar oder kontrollierbar. Und das reduziere ich auf so eine Szene unter einem Dach in einem Haus. Zum Beispiel die Geschichte mit den Jungs, die Doppelkopf spielen. Da kommt ja auch ein Reichsbürger vor. Und der leichtfertige Umgang mit Nazidevotionalien. Und der Überbau bei der „Witwe...“ ist dann die Frage nach der Beeinflussung unserer Zukunft. Aber ich sehe meine Aufgabe als Schriftsteller nicht unbedingt in der große Erzählung: Nation, Fortschritt, Welt... Sondern eher davon zu erzählen, was gerade bei uns in Deutschland den Menschen zusetzt.
Was, glauben Sie, sind das für Themen?
Bei der „Witwe“ geht es zum Beispiel um das Thema Alterseinsamkeit oder Altersarmut. Dann haben wir die migrantischen Jugendlichen und deren Perspektivlosigkeit. Der Rückzug ins Private. Und dieses Private wiederum wollte ich beschreiben: Warum sind die Menschen so unglücklich? Was hindert uns daran, miteinander im Gespräch zu kommen? Was hindert uns daran, das Solidarische als das Coole zu verstehen? Darum geht es in den Geschichten. Und diese Geschichten brauchen die gewöhnlichen Menschen. Kleine Helden, kleine Schuldige, kleine Unschuldige.
Sie lesen auf dem Literaturfestival am Altenberger Dom auch aus Ihren Kinderbüchern „Hey, hey Taxi!“ (1 und 2). Und haben in diesem Jahr ein Buch für ältere Kinder veröffentlicht. Wie gehen Sie bei Ihren Kinderbücher an die Themen ran? Ähnlich wie bei den Texten für Erwachsene?
Anarchischer. Diese beiden Taxibücher sind vollkommen frei von jeglichem Moralismus. Die Geschichten stecken voll absurder Wendungen und ungewöhnlicher Figuren, die ich mit meinem Sohn zusammen entwickelt habe. Ich möchte, dass sich Kinder nicht langweilen, wenn sie meine Geschichten lesen oder vorgelesen bekommen. Ziel ist, dass sie Bücher gut finden - über gute Geschichten. Ich versuche also alles, um auf Papier zu zeigen, dass die Welt der Buchstaben mindestens genauso spannend ist, wie die Welt der Bilder auf Bildschirmen.
Als Autor oder Autorin von Kinderbüchern sollte man im Hinterkopf behalten: Dass die Erwachsenen mitlesen.
Also keine Politik in Kinderbüchern?
Kinder sind natürlich betroffen von allen Entscheidungen, die wir politisch treffen, auch wenn sie selber eben nicht politisch handeln. Und das möchte ich auch spiegeln, wenn mir ein politischer Gedanke wichtig ist. Ich habe zum Beispiel jetzt ein kleines Pixie-Buch gemacht. Das Kinder ganz anders lesen werden als ihre Eltern. Die Erwachsenen lesen eine Geschichte der Flucht und Vertreibung. Für die Kinder ist es eine Geschichte von einem Mädchen, das nicht auf einem Bein stehen kann. Und das sollte man als Autor oder Autorin von Kinderbüchern im Hinterkopf behalten: Dass die Erwachsenen mitlesen. Und das sind diejenigen, die dann in die Politik gehen oder Briefe schreiben an unsere Abgeordnete.
So eine Art literarische Unterwanderung.
Ja, denn wir geben als Erwachsene auch gerne die Verantwortung weiter: Schön, diese Klimaproteste der Jugendlichen, wie toll, dass sich die Kinder da engagieren! Anstatt selber da auch mitzumachen und selber was zu überlegen. Und weil wir über positive Utopien gesprochen haben – das ist ja eine ganz große Stärke von Kinderbüchern, finde ich. Denn in den allermeisten Fällen gehen die gut aus. Und ein gutes Kinderbuch kann sagen: Es ist schlimm - und trotzdem kannst du was tun. Aber Geschichten, die nur Träger von moralischen und Handlungsbotschaften sind - jetzt geh’ schön hin und rette die Welt oder wähle Partei xy – das ist nichts für mich.
Vom 26. bis 29. Juni finden in Altenberg im Bergischen Land, direkt am Altenberger Dom, das Literaturfestival „Literatur am Dom“ statt. Die Kuratoren, darunter Kritiker Denis Scheck, bringen wieder bekannte Namen in den kleinen Ort, wie Caroline Peters, Dietmar Bär, Arno Geiger und Emine Sevgi Özdamar.
Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Er liest am Samstag, 28. Juni, um 14.30 aus seinen Kinderbüchern "Hey, hey, hey Taxi!" (Teil 1&2, Mairisch Verlag), Tickets kosten ab 11 Euro. Um 19 Uhr gibt es dann eine Lesung aus „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ (Luchterhand) und ein Gespräch mit Moderator Denis Scheck. Tickets kosten ab 22 Euro.