Stuckrad-Barres „Noch wach?“Ein sehr gutes Buch über böse Menschen

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Benjamin von Stuckrad-Barre

Benjamin von Stuckrad-Barre

Benjamin von Stuckrad-Barre bestreitet, einen Schlüsselroman geschrieben zu haben. Wer saftige Stellen sucht, wird freilich nicht enttäuscht.

Benjamin von Stuckrad-Barres neuer Roman „Noch wach?“ ist die Geschichte einer Freundschaft. „Freund“ dürfte jedenfalls das Nomen sein, das auf den knapp 400 Seiten am häufigsten vorkommt. Tatsächlich pflegt der Ich-Erzähler, hinter dem wir unweigerlich den Autor vermuten, so einige Freundschaften im Buch, das am Mittwoch im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist und auch erst am Morgen dieses Tages zur Besprechung vorlag.

Etwa zu einem dauerbekifften Jesus-Doppelgänger, der im Chateau Marmont, Hollywoods legendärem Hinterzimmer, Schreibmaschinen in den Pool wirft. Oder zu seinem knallharten Medienrechtsanwalt, der nur bei Paul McCartney weich wird. Und zu Sophia, der schönen, klugen und ruchlos neoliberalen Journalistin eines Berliner Krawallfernsehsenders, hinter dem man unweigerlich ein großes Boulevard-Imperium derselben Stadt zu erkennen glaubt. Dazu gleich mehr.

Der engste Freund des Ich-Erzählers ist der CEO eines Krawallsenders

Die wichtigste Freundschaft aber verbindet von Stuckrad-Barres Erzähler mit dem älteren CEO ebenjenes Senders. Was man schon daran erkennen kann, dass dieser im Roman ausschließlich als „mein Freund“ tituliert wird. Eine echte, tiefe Freundschaft verbinde sie, das betont der Erzähler immer wieder, auch wenn seine Beschreibungen alles andere als schmeichelhaft ausfallen: „Auf gar keinen Fall war es jetzt geboten, Scherze über seine seltsame Kleidung zu machen“, hebt der am Pool des Chateau lungernde Erzähler an, um eben genau das zu tun: „Er trug einen STANFORD-HOODIE aus CASHMERE, eine Sonnenbrille mit bunt changierenden Gläsern – und, anders als sonst, keinerlei Haargel, was bei seinem noch immer sehr kräftigen Haarwuchs eine wirklich seltsame Ananasfrisur erzeugte. Kurzum, er sah komplett verrückt aus.“

Der Freund ist mit der Führungsriege des Unternehmens nach Los Angeles geflogen, um über den Pacific Coast Highway im gemieteten Angeberschlitten in Richtung Silicon Valley zu düsen, einer strahlend-digitalen Zukunft entgegen.

Mit dabei ist auch der Chefredakteur seines Senders, für den der Erzähler keinen sanften Spott, sondern nur kalte Verachtung übrig hat: „Ruhig, Brauner. Endlich passte diese eigentlich Pferden zugedachte Wendung mal, denn dieser Typ hatte sich politisch doch sehr unangenehm radikalisiert mit den Jahren, war direkt proportional dazu immer fetter geworden, und parallel zu seinem Haupthaar fielen auch seine Sicherungen immer schneller und großflächiger aus, er war so eine Art wirr faselnder Gartenzaunnazi geworden … “

Der Leser, der in den beiden beschriebenen Personen nicht den Springer-Chef Mathias Döpfner und seinen ehemaligen Chefredakteur Julian Reichelt zu erkennen glaubt, möge die erste „Bild“-Zeitung werfen. Benjamin von Stuckrad-Barre jedenfalls verwehrt sich im aktuellen „Spiegel“-Interview gegen die Einschätzung, es handele sich bei „Noch wach?“ um einen Schlüsselroman („völliger Quatsch“) und der Haftungsausschluss behauptet, der Roman sei zwar in Teilen von verschiedenen realen Ereignissen inspiriert, jedoch eine hiervon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte.

Dem Autor geht es ums große Unsittengemälde

Wer saftige Stellen sucht, wird freilich nicht enttäuscht. Dem Autor aber geht es ums große Unsittengemälde. Es sind ihm einige sagenhaft lustige und entlarvende Szenen gelungen, zum Beispiel eine Begehung der Baustelle der neuen Firmenzentrale mit einer „Feelgood-Managerin“. Und auch etliche erschütternd widerliche. Dazu hat von Stuckrad-Barre seinen Ich-Erzähler als konfliktscheuen Charakter angelegt, der spitz zu formulieren weiß und doch erstaunlich begriffsstutzig ist, man denkt etwa an Nick Carraway aus „Der große Gatsby“. Er will nicht verstehen, warum sein Unternehmer-Freund am tobenden Chefredakteur festhält, oder was ihm das in Ungnade gefallene Hollywood-Starlet Rose McGowan sagen will, als sie ihm am Hotelpool eine Biografie von Monica Lewinsky schenkt.

Doch zurück im kalten Berlin gerät er zwischen die Fronten, als er in seiner Suchtselbsthilfegruppe Sophia kennenlernt: Die junge Journalistin gibt sich als Berufszynikerin: „Ich sehe gut aus, arbeite bei nem Boulevardsender, ballere aus meinem engen Oberteil Thesen raus, die die Leute aufregen – schon ist Traffic.“

Bald vertraut ihm Sophia ihre höchst missbräuchliche Affäre mit dem verachteten Chefredakteur an, und dass sie nur eine von vielen im Sender sei: „Wenn du mit ihm Sex hast, wirst du gefördert, befördert, gepampert ohne Ende. Beziehungsweise: doch, eben doch mit Ende. Wenn es dann nämlich vorbei ist, wird man strafversetzt, gemobbt, lächerlich gemacht.“

Der Erzähler konfrontiert seinen Freund mit den Vorwürfen, wird zugleich zum Vertrauten einer ganzen Reihe weiblicher Opfer des Chefredakteurs, lanciert mithilfe seines Anwaltsfreundes ein Compliance-Verfahren. Nur um schließlich mit seiner eigenen Naivität konfrontiert zu werden: Der Freund hintergeht ihn, die Verfehlungen des Chefredakteurs bleiben größtenteils ungeahndet: „Wir haben getan, was wir konnten – aber die haben eben gekonnt, was sie taten.“

Der Missbrauch setzt sich fort, auch nach Rose McGowan und MeToo, ja er findet sogar im idyllischen Chateau Marmont statt, während der Erzähler selbstversunken im Pool planscht. Auch deshalb wird „Noch wach?“ den Hype überleben – und weil es ein sehr gutes Buch über böse Menschen ist – und über das böse Spiel, in dem sich ihre Opfer mitschuldig machen.


Benjamin von Stuckrad-Barre: „Noch wach?“, Kiepenheuer & Witsch, 384 Seiten, 25 Euro.

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