Halbzeit bei der BerlinaleViel Mittelmaß und „Star Wars“ im Fischerdorf

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Im Vordergrund des Bildes geht ein Mann in einem Overall am Strand entlangspazieren, im Hintergrund schweben viele riesige Raumschiffe über dem Boden.

Brandon Vlieghe in einer Szene des Films „L'Empire“

Die 74. Filmfestspiele haben bislang wenige Höhepunkte und viel Mittelmaß im Programm. Und Kristen Stewart will endlich runter von der Rednertribüne.

Entspannt saß der US-Star bei der Berlinale und erklärte, dass queere Filme das Queer-Sein nicht mehr so sehr in den Vordergrund schieben sollten. Es gehe nicht mehr darum, ausgegrenzten Menschen eine Stimme zu geben und sich dafür gegenseitig auf die Schulter zu klopfen. „Es ist Zeit, von der Rednertribüne herunterzusteigen“, so Kristen Stewart: Das Queere müsse endlich auch im Kino ganz selbstverständlich im Mainstream ankommen.

So wie in Stewarts Neo-Noir-Thriller „Love Lies Bleeding“, zu sehen in einer Berlinale-Spezialvorführung: Hier geht es um Körperkino im Body-Building- und Gangstermilieu, um aufgeblasene Muskeln und spritzendes Blut im Wüstenstaat New Mexico. Dass das Liebespaar im Zentrum, die Muckibuden-Managerin Lou (Stewart) und die Bodybuilderin Jackie (Katy O'Brian), zwei Frauen sind, tut wenig zur Sache. Die beiden haben genug damit zu tun, Leichen wegzuräumen und Steroide zu spritzen.

Iranischem Regie-Duo steht wohl ein Prozess bevor

Ob die Iraner Maryam Moghadam und Behtash Sanaeeha den Auftritt Stewarts im Internet verfolgen konnten? Das iranische Regie-Duo erlebt derzeit, wie gefährlich es in ihrem Land ist, sich einem anderswo gänzlich unspektakulären Frauenthema filmisch zu widmen. Die beiden erzählen in „My Favourite Cake“ von einer älteren Witwe, die ein klein wenig spätes Glück will. Mit erstaunlichem Selbstbewusstsein angelt sich Mahin (Lily Farhadpour) den ebenso einsamen Taxifahrer Esmail (Esmail Mehrabi) und lädt ihn in ihr Haus ein.

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Aus westlicher Perspektive sieht das nach einer wunderbar leichten Altersromanze aus (wenn auch mit überraschendem Finale). Tatsächlich ist „My Favourite Cake“ das, wonach bei der Berlinale beständig gerufen wird: ein politischer Film. Eine Frau, die Wein trinkt, die in ihren eigenen vier Wänden den Hijab ablegt und die sich auf der Straße mit der Sittenpolizei anlegt: „Je unterwürfiger du bist, desto mehr unterdrücken sie dich“, sagt Mahin einer jungen Frau, die sie vor den Häschern rettet.

Es habe mit dem Film eine ganze Reihe von roten Linien übertreten, meldete sich das Regiepaar bei der Berlinale. Anreisen durften nur der Hauptdarsteller und die Hauptdarstellerin. Das iranische Regime hat Moghadam und Sanaeeha die Pässe entzogen. Ihnen steht wohl ein Prozess bevor, nicht ihr erster. Die sanfte Komödie mit politischer Tiefenwirkung gilt als Bären-Anwärter.

Einziger US-Beitrag des Filmfestivals ist „A Different Man“

Manchmal gehen die Filme bei dieser Berlinale wortwörtlich unter die Haut: Ein durch Wucherungen entstellter Mann verwandelt sich im einzigen US-Beitrag „A Different Man“ dank einer experimentellen Therapie in einen Schönling. Komischer Körperhorror ist dabei inbegriffen: Plötzlich pellen sich die Beulen in Edwards Gesicht fetzenweise ab - und ihm bietet sich die einmalige Chance, seiner bisherigen Schattenexistenz zu entkommen. Der nervös-unsichere Möchtegern-Schauspieler (Sebastian Stan, Marvels "Winter Soldier") nimmt eine neue Identität an. Aber ändert sich sein Loser-Leben dadurch?

Regisseur Aaron Schimberg entwickelt in seiner Satire ein cleveres Spiel um Fremd- und Selbstwahrnehmung. Was ist schön? Und was ist hässlich? Bestimmt das Aussehen das Sein? Er stellt Edward den quirligen und einnehmenden Oswald gegenüber, gespielt von Adam Pearson, der tatsächlich an der Krankheit Neurofibromatose leidet.

„A Different Man“ war ein weiterer Höhepunkt im Wettbewerb, genau wie Andreas Dresens vielgelobtes Widerstandsdrama „In Liebe, Eure Hilde“. Wer dagegen bislang enttäuscht, sind die vorab so hoch gehandelten Franzosen.

Französischer Film „Hors Du Temps“ enttäuscht

Das gilt besonders für „Hors Du Temps“ von Olivier Assayas, eine autobiografisch inspirierte Komödie über die Selbstisolation in der frühen Corona-Zeit. Neurosen eines Brüderpaars verstärken sich im sommerlichen Landhaus, Konflikte wachsen, Lebenspläne werden überdacht. Viel wirkt dann aber doch nur wie sommerliches Geplänkel.

Hoch aktuell ist die Dokumentarfilm „Dahomey“ von Mati Diop: Sie begleitet die Rückführung von geraubten Kulturschätzen aus Frankreich nach Benin, wie sie auch Deutschland schon vollzogen hat.

Aber was die Französin mit senegalesischen Wurzeln daraus macht, verwundert doch: Eine hölzerne Königsstatue raunt mit Rumpelstimme in Fon, einer westafrikanischen Sprache, und kommentiert ihre Befreiung aus der Gefangenschaft. Die Geschichte der Sklaverei schwingt stets mit. Spannend wird Diops Film, wenn sich junge Menschen in Benin mit Blick auf die zurückgekehrten Könige ihrer kulturellen Identität zu vergewissern suchen.

„L’ Empire“ ist wie „Star Wars“ in einem französischen Dorf

Den wohl abgedrehtesten Wettbewerbsfilm präsentierte Diops Landsmann Bruno Dumont: „L’ Empire“ muss man sich als „Star Wars“ in der französischen Provinz zwischen Heuballen, Hummernetzen und halb debilen Dorfbewohnern vorstellen. Zwei außerirdische Mächte, die „Nullen“ und die „Einsen“, tragen ihren letzten Kampf auf der Erde aus und haben Besitz von Menschenkörpern ergriffen. Oder so ähnlich.

Dumont hat schöne „Star Wars“-Versatzstücke in seiner Kinokiste: surrende Laserschwerter, metallisch-scheppernde Darth-Vader-Stimmen, ein als künftiger Herrscher verehrtes Baby namens Freddy und riesige Raumschiffe in Form von fliegenden Kathedralen.

Ist das jetzt ein bissiger Kommentar auf Frömmelei jedweder Art, vielleicht auch auf unsere digitale Besessenheit? Oder einfach ein bestenfalls halbwegs gelungener Ulk? Je länger man schaut, desto mehr stellt sich immerhin die Erkenntnis ein: So viel verrückter als die originalen „Star Wars“-Filme ist diese Parodie auch nicht.

So steuert die 74. Berlinale zielstrebig auf die zweite Halbzeit zu. Es ist wie so oft bei dieser um ihren Platz im globalen Festivalzirkus ringenden Kinoleistungsschau: Neben einigen wenigen Höhepunkten ist viel Mittelmaß dabei.

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