Bestsellerautor Gabor SteingartIst das deutsche Wirtschaftswunder vorbei?

Der Käfer ist Sinnbild für das deutsche Wirtschaftswunder und nicht nur auf Oldtimertreffen ein Vehikel für Nostalgie.
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- Gabor Steingart nimmt für sich in Anspruch, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, von denen insbesondere Politiker nichts wissen wollen.
- In seinem neuen Buch plädiert der Bestsellerautor für eine neue Zukunftsagenda. Ansonsten sei unser Wohlstand in Gefahr.
- Wir leben längst von der Substanz, so Steingarts Hauptthese. Eine Kritik.
Köln. – Untergangsszenarien gehören zur Menschheit wie die Buchstaben zum Alphabet. Seitdem der Mensch in der Lage ist, sich mit der Zukunft zu beschäftigen, gibt es neben den Utopien auch Dystopien – Entwicklungen können eben einen guten Verlauf nehmen oder einen schlechten. Derzeit – und auch hier ist die Corona-Pandemie noch einmal ein Brandbeschleuniger – hat Pessimismus Konjunktur, ist die Tonart der Saison eindeutig Moll. Der Euro? Scheitert. Europa? Zerbricht. Das Klima? Nicht zu retten. Die Flüchtlingsfrage? Unlösbar. Und so weiter. Für manchen Autor sind diese pessimistischen Prognosen ein bestens funktionierendes Geschäftsmodell, Crash-Literatur und Katastrophenfilme verkaufen sich prima und Schwarzmalen wird zum schrillen Überbietungswettbewerb.
Wir leben von der Substanz früherer Generationen
Und tatsächlich besteht für Jubel wenig Anlass, der Blick auf die Politik kann ebenso wenig erheitern wie der auf die Wirtschaft oder die Umwelt. Die alte, in der Rückschau geordnete Welt der Bundesrepublik ist Geschichte, weltpolitische Umbrüche und technologische Revolutionen haben Veränderungsprozesse in Gang gesetzt, die unumkehrbar sind. Sich damit auseinanderzusetzen gehört nicht zur Kür, sondern zur Pflicht, will eine Gesellschaft nicht zum Spielball, besser: Opfer der Geschichte werden.

Gabor Steingart
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Mit diesem Anspruch, nämlich auf der Basis von präzisen Analysen Perspektiven zu entwickeln, ist der Journalist, Bestsellerautor und Medienunternehmer Gabor Steingart schon fast sein ganzes Berufsleben unterwegs. Auch er greift gerne in die schwarzen Farbtöpfe, wenn es um Zukunftsgemälde geht. „Die unbequeme Wahrheit“ heißt sein aktuelles Buch, das heute erscheint und seinen Befund aus früheren Erfolgsbüchern aktualisiert, wonach die produktive Kraft der deutschen Volkswirtschaft deutlich nachgelassen hat und wir längst von einer Substanz leben, die in der Zeit von Gottfried Daimler und Werner von Siemens gebildet und in den Wirtschaftswunderjahren klug abgesichert wurde. Heute, so die alarmistische These, versuchten wir, mit Hilfe der Notenpresse die heimelige Welt von gestern zu retten – und damit die Zukunft bereits heute zu verfrühstücken. Das Ergebnis, man ahnt es, kann nur ein furchtbares und zu spätes Erwachen aus einer fatalen Illusion sein.
Nun ist diese These nicht neu, sie war schon – und daran hat Gabor Steingart als damaliger Chef des Berliner „Spiegel“-Büros tatkräftig mitgewirkt – in den Jahren von Rot-Grün in Umlauf und trieb am Ende die Regierung Schröder so vor sich her, dass es zur Agenda 2010 kam. Auch diesmal gibt er den Mahner, verbunden mit dem Vorwurf an die Politik, durch falsche Weichenstellungen die notwendigen (und für die Bevölkerung durchaus schmerzhaften) Korrekturen aus Gründen des Machterhalts zu unterlassen – mit der Folge, dass wir eine immer größere Bugwelle von Problemen schaffen, die zwangsläufig irgendwann ins Boot schwappen und es zum Kentern bringen.
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Dem Vorwurf, dass Gegenwärtiges auf Kosten des Zukünftigen gerettet wird, ist angesichts der Verschuldungsorgie, die ja durch Corona noch einen gewaltigen Schub erhalten hat, eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen. Denn von den zig Milliarden geht das meiste in Maßnahmen zur Sicherung des sozialen und wirtschaftlichen Status quo, wenig in eine strategische Zukunftssicherung. Die wäre aber, auch dafür spricht viel, notwendig, schaut man auf die brutalen Umbrüche, denen die Volkswirtschaft tragende Industrien gerade ausgesetzt sind. Wovon also will eine zudem demografisch überalterte Gesellschaft leben, wenn ihr wichtige Geschäftsfelder wie etwa der Automobilbau oder die Stahlproduktion wegbrechen?
Schwer widersprechen kann man auch dem Hinweis, dass Deutschland (und Europa) bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle – und ihnen gehört die Zukunft, wenn nicht schon die Gegenwart – hinterherhinkt. Unsere Helden hießen Thyssen und Henkel, Bosch und Daimler. Sie lebten früher und wir von ihren Erfindungen noch heute. Die neuen Helden der Digitalwirtschaft heißen Mark Zuckerberg, Elon Musk oder Steve Jobs, dessen Firmengründung Apple allein mehr wert ist als die gesamten Dax-Unternehmen. Um die sozialen Leistungen zu erhalten, müsse Deutschland ganz vorne in der neuen Plattformökonomie mitspielen – tut das aber nicht.
Für Steingart sind Digitalisierung und Bildung Geschwister
Natürlich das nicht die ganze Wahrheit, sie ist stark vergröbert gezeichnet. Steingart ist eben nicht ein penibel differenzierender Wissenschaftler, sondern ein polarisierender, gelegentlich polemischer Autor und seine Botschaft (und sein Buch) an den Mann und an die Frau bringen will er auch. Natürlich sind Themen wie die Auswirkung der KI, der künstlichen Intelligenz („Dampfmaschine des 21. Jahrhunderts“), auf die Arbeitswelt schon anderswo ausführlich behandelt, nicht zuletzt in den Büchern des großartigen Yuval Harari. Dennoch bringt Steingart die unterschiedlichen, aber miteinander verwobenen Fäden klug zusammen.
Aber Steingart belässt es nicht beim Klagen, er entwickelt eine Agenda des Aufbruchs. Gefordert werden Bildung und Digitalisierung („Geschwister“). Lehrkräfte aller Ebenen sollten Manager des Aufstiegs sein, nicht zuletzt bei der bislang misslungenen Integration von Zugewanderten. Für die Rente, die mit dem Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge so richtig unter Stress gerät, fordert er ein Staatsfonds-Modell nach dem Vorbild Norwegens. Für Europa brauche es ein neues Narrativ, das Stärke und Gemeinsamkeit in der Unterschiedlichkeit findet. Alles im Detail nicht neu, in der Zusammenschau aber bedenkenswert.
Es ist ein knapper, wie immer bei ihm süffig geschrieben und mit gekonnten Sprachbildern garnierter Zwischenruf, der allerdings manchmal arg messianisch daherkommt. Wer wecken will, der muss laut sein, scheint die Devise zu sein. Steingart ist sogar sehr laut. Dazu braucht man ein Ego, wie es sogar in der nicht gerade für ihr Minderwertigkeitskomplexe bekannte Berufsgruppe der Journalisten nur selten vorkommt. Dafür steht schon die Unterzeile des Buches: „Rede zur Lage unserer Nation“ – das wäre auch eine Nummer kleiner gegangen.
Gabor Steingart: „Die unbequeme Wahrheit – Rede zur Lage der Nation“, Penguin Verlag, 208 Seiten, 16 Euro