Biografie zum 10. TodestagWer der „Tschick“-Autor Wolfgang Herrndorf wirklich war

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Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist am 26. August 2013 im Alter von 48 Jahren gestorben, Autor Wolfgang Herrndprf zu Gast in der Radiosendung "Lauschangriff Klubbing" (Eins Live, WDR) las er aus seinem Roman "In Plüschgewittern".

Der Autor Wolfgang Herrndorf im Jahr 2003

Am 26. August jährt sich der Freitod Wolfgang Herrndorfs zum zehnten Mal. Jetzt leuchtet Tobias Rüther mit einer Biografie das Leben des verschlossenen Autors aus.

Die Waffe ist ein Revolver von Smith & Wesson, Kaliber .357 Magnum, unregistriert. In der Druckfassung seines Blogs „Arbeit und Struktur“ lobt Wolfgang Herrndorf ihr Gewicht (es sind 1,3 Kilo), ihr feines Holz, ihr brüniertes Metall: „Mit dem MacBook zusammen der schönste Gegenstand, den ich in meinem Leben besessen habe.“ In den finalen drei Jahren dieses Lebens schläft Herrndorf mit der Waffe in der Faust, „ein sicherer Halt“, schreibt er, „als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt“.

Am späten Abend des 26. August 2013, einem Montag, legt der Berliner Autor am Nordufer des Hohenzollernkanals im Wedding zum letzten Mal Hand an die Realität, zielt durch den Mund auf das Stammhirn. Setzt dem Leben, das ihm endgültig zu entgleiten drohte, ein selbstbestimmtes Ende. „Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war“, schätzen Marcus Gärtner und Kathrin Passig im Nachwort zur Buchausgabe von „Arbeit und Struktur“.

Wolfgang Herrndorfs Suizid erschüttert das literarische Deutschland

Herrndorfs Freitod erschüttert das literarische Deutschland. Nicht nur, weil hier ein großer Autor vor seiner Zeit stirbt, er ist erst 48. Sondern auch, weil sich diese Größe lange verbarg und erst zu voller Blüte entfaltet, nachdem das Todesurteil verhängt wurde: Glioblastoma multiforme, ein bösartiger Hirntumor, mittlere Überlebenszeit bei gängiger Behandlung 15 Monate.

Und mehr noch, weil Herrndorf, die Öffentlichkeit, die er bis dahin stets gemieden hat, nun über ein Blog an seinem Sterben teilhaben lässt. An seinem nicht anders als heroisch zu nennenden Versuch, dem wuchernden Hirn ein wichtiges Werk abzutrotzen. Eines, das bleibt, seinen ganz eigenen Zugriff auf die Wirklichkeit. Die Ärzte sprechen im Falle eines solchen Hirntumors, der epileptische Anfälle und Wahrnehmungsstörungen auslöst, von einer Raumforderung. Herrndorf, der an seinen Texten jahrelang herum feilt, bleibt kaum Zeit für die eigene Raumforderung: Er will einen Platz einnehmen in der Tradition, die er so schätzt.

Tschick, Regie: Fatih Akin. Zwei junge Teenager stehlen ein Auto und begeben sich auf einen Roadtrip, der wahrscheinlich ihr Leben verändern wird. Mit Tristan Gobel als Maik Klingenberg (r.) und Anand Batbileg als Tschick.

Szene aus Fatih Akins Verfilmung von„Tschick“

Es gelingt: Mit seinem Jugendroman „Tschick“ steigt Wolfgang Herrndorf – nach einem Roman und einem Erzählungsband, die jeweils nicht über die erste Auflage hinausgekommen waren – beinahe über Nacht in den Rang eines Bestsellerautors und modernen Klassikers auf. Jahrzehntelang krebst er am Existenzminimum herum, trägt die blaue Dienstjacke, die ihm die Nürnberger Post überlassen hat, tippt so lange auf seiner Tastatur, bis kein Buchstabe mehr darauf zu lesen ist. Jetzt soll er über Filmrechte verhandeln, dabei ist er doch schon froh, wenn ihm Worte einfallen, ohne dass er sie googeln muss.

Zum zehnten Todestag hat Tobias Rüther die quasi offizielle Biografie des, schätzt Rüther, größten deutschsprachigen Schriftstellers seiner Generation veröffentlicht. Darin kann sich der Journalist ebenso auf den Nachlass des Autors stützen, wie auf die Kooperation der Witwe, der Eltern und der Freunde Herrndorfs. Obschon der in seinem Testament,  nur halb im Scherz, festgelegt hat: „Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“

Journalisten wollte Wolfgang Herrndorf „mit der Waffe in der Hand vertreiben“

Manchmal, siehe Kafka und Max Brod, ist Verrat der größere Freundschaftsdienst. Und in Rüther hat Herrndorf einen idealen Biografen gefunden. Einen, der sich von Bewunderung, von der Materialfülle und auch vom eigenen Schreibtalent nicht den klaren Blick auf seinen Gegenstand verstellen lässt. Einen, der Zusammenhänge erkennt, auch überraschende, der es versteht, den gescheiterten Maler Herrndorf mit dem späteren Autor zu verlinken. Der Lebensthemen aufzeigt, ohne die Kunst kaputt zu erklären.

Allein das erste Kapitel über das Aufwachsen des Autors in der Hamburger Satellitengemeinde Garstedt ist zum Steinerweichen schön: Rüther beschreibt den Blick auf den „weiten, blassblauen norddeutschen Himmel“ aus dem Fenster von Herrndorfs Kinderzimmer – und wie dieser Blick, immer wieder, auf dessen Bildern und in dessen Texten auftaucht, als bundesrepublikanische Schrumpfnatur. Herrndorfs Künstlerblick, schließt Rüther, sei ein Kinderblick gewesen, lebenslang.

Schon als Schüler gibt Herrndorf ein Witzblatt heraus, die ZfS: „Zeitung für Schwachsinnige“. Später, wenn er sich in Nürnberg durch ein Kunststudium quält, dessen Werte den seinen entgegenstehen, wird der Humor seine Rettung sein. Herrndorfs Beharren auf der Alleingültigkeit der Alten Meister und der Nichtigkeit moderner Kunst eckt bei Studenten wie Professoren an. Hatte er gehofft, in Nürnberg noch den Geist Albrecht Dürers vorzufinden?

Erste Erfolge mit Helmut-Kohl-Gemälden im Stil von Vermeer

Der Weg in die Galerien bleibt ihm versperrt. Dafür spricht die „Titanic“ auf seine unverlangt eingesandte Mappe an: Die Ödnis der Nach-Wende-Jahre, in aufwendiger Lasur-Technik eingefangen, das hat was. Herrndorfs Meisterwerk für das Satiremagazin wird eine Kopie von Vermeers „Briefleserin in Blau“ mit der ausladenden Profilansicht Helmut Kohls anstelle der Briefleserin. Andächtig wirkt der Einheitskanzler im metaphysischen Seitenlicht des Delfters – und völlig fehl am Platz.

Herrndorfs einziger Freund in den Nürnberger Jahren ist ein neuseeländischer Musikstudent. Calvin Scott ist so tiefgläubig, wie es sein Vorname suggeriert. Er versucht den Deutschen in endlosen Gesprächen von der Unsterblichkeit der Seele zu überzeugen. Der kontert, liest man bei Rüther, mit der Struktur des Gehirns als Ursache aller Dinge. Was der Mensch als sinnstiftend wahrnimmt, ist in dieser Weltsicht nur verkitschte Kontingenz. Am kältesten hat Herrndorf das später in seinem Abenteuer- und Spionageroman „Sand“ dargestellt. Der sei, so der Autor, eigentlich ein „Trottelroman“. Es ist das zweite große Werk, das er dem Tod aus den Händen reißt.

Geisterstunde Deutschland, Berlin, 17.06.2023, Geisterstunde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof: Grabstein von Wolfgang Herrndorf Schriftsteller

Der Grabstein von Wolfgang Herrndorf auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.

Der schwärzeste Witz im Leben von Wolfgang Herrndorf ist, dass sich sein Gehirn als Ursache aller Dinge gegen ihn wendet. „Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem“, beginnt der eingefleischte Atheist sein Blog.

Den anderen, erträglicheren Witz erzählt das Herrndorf‘sche Werk selbst, vom göttlichen Licht der Vermeer-Kopie bis zum letzten Abschnitt des nachgelassenen Romanfragments „Bilder deiner großen Liebe“: In Berlin wohnt der Autor lange in der Novalisstraße und in Berlin findet er im Internetforum der „Höflichen Paparazzi“ den Kreis an Freunden und Jüngern, den er an der Nürnberger Akademie vergeblich gesucht hat. Hier weitet sich die Biografie zum Porträt einer Künstlergruppe und einer Geisteshaltung, die nach den selbstverliebten Pop-Jahren (Rainald Goetz ist zugleich Gott und Endgegner der Paparazzi) einen neuen, schärferen Ton in die deutsche Literatur bringen.

Sogar bei den „Pappen“, wie sie sich selbst nennen, ist Herrndorf so etwas wie der erste Außenseiter unter Gleichgesinnten, zerrissen zwischen vernichtendem Urteil und ungebremster Schwärmerei, zwischen digitaler Nüchternheit und seiner unstillbaren Sehnsucht nach dem weiten, blassblauen norddeutschen Himmel, der ihm durchs Fenster seines Kinderzimmers heimgeleuchtet hat. „Er war ein Romantiker“, sagt Calvin Scott über seinen Studienfreund, „aber in life-long denial.“

Die Waffe, mit der Wolfgang Herrndorf seinem Leben ein Ende gesetzt hat, befindet sich heute in einem Tresor im Keller des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Der letztmögliche Zugriff zur Realität ist jetzt eine Reliquie, ein romantisches Objekt.

Tobias Rüther: „Herrndorf“, Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 25 Euro

Buchcover Tobias Rüther: Herrndorf

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