BochumSo war die erste Stadttheatervorstellung mit Abstandsregeln

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Stefan Hunstein, Elsie de Brauw in „Die Befristeten“

Stefan Hunstein, Elsie de Brauw in „Die Befristeten“

  • Nur 50 Zuschauer sind derzeit im 800-Plätze-Saal des Bochumer Schauspielhauses zugelassen.
  • Wer das Glück hatte, eine Karte zu ergattern, konnte eine beklemmende und doch gelungene Vorstellung erleben.
  • Eine Kritik ohne Mundschutz.

Bochum – „Wir freuen uns so“, grüßt die Dame am Einlass. Ein Lächeln lässt sich unter ihrem Mundschutz nur vermuten. Jetzt ziehen wir selber unsere Masken an, folgen dem angewiesenen Weg. Den Abstand zum Vordermann wahrend, wie wir es wochenlang im Supermarkt eingeübt haben.

„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“ Mit diesem Satz hat Elias Canetti 1960 sein philosophisches Hauptwerk „Masse und Macht“ eingeleitet. „Überall“, schreibt er weiter, „weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus. Man sperrt sich in Häuser ein, in die niemand eintreten darf, nur in ihnen fühlt man sich halbwegs sicher.“ Im Foyer werden wir noch einmal getrennt. Alphabetisch eingeteilt müssen wir am jeweiligen Kassenhäuschen unsere bereits schriftlich eingereichten Adressen überprüfen und zwei Fragen beantworten: Ob wir Erkrankte kennen oder gar selbst Symptome zeigen?

Erst die doppelte Verneinung bringt uns weiter auf den Weg in den Zuschauerraum des Bochumer Schauspielhauses, des einzigen Stadttheaters in Nordrhein-Westfalen, das sich dazu entschlossen hat, die durch das Virus unterbrochene Spielzeit wiederaufzunehmen. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Hausherr Johan Simons mit neun Schauspielern aus seinem Ensemble eine neue Inszenierung in Rekordzeit erarbeitet. Gespielt wird anderthalb Stunden lang Canettis „Die Befristeten“, der Entwurf einer Gesellschaft, die das Risiko und die Ungewissheit abgeschafft hat, durch Krankheit, Unfall oder von fremder Hand zu sterben, in dem sie jedem Mensch sein Todesdatum von Geburt an zuweist. Man trägt seine Lebenfrist in einer versiegelten Kapsel um den Hals und auch ganz offen im Namen; wird 70, 32, oder 12 gerufen.

Eine weitere maskierte Dame bringt uns zu unseren Plätzen. Sie sind nicht zu verfehlen: Alle Klappsitze links und rechts von ihnen sind entfernt worden. Die anderen Zuschauer sitzen ebenso vereinzelt im Saal. Wir sind 50, plus eine Souffleuse. Mehr sind momentan nicht erlaubt, die anderen 760 Plätze des großen Hauses bleiben leer. Es ist als hätte Thanos, der malthusianische Bösewicht aus den Marvel-Filmen, gleich zweimal mit dem Finger geschnippt. Leer bleibt zunächst auch die Bühne. Hubpodien heben und senken sich in Wellen, Zugstangen fahren aus dem Schnürboden nach unten, Scheinwerfer blenden, Laserlicht zerschneidet den von einer Windmaschine ins Parkett geblasenen Kunstnebel. Als müsste sich die Bühnenmaschinerie nach der Zwangspause erst langsam warmlaufen. Oder als wollte das Theater beweisen, dass es notfalls auch ohne Menschen auskommt.

Dann stehen sie in den offenen Türen des Saals, in roten Gewändern, die Ältere an die Osho-Sekte und Jüngere an „The Handmaid’s Tale“ erinnern, und bekunden ihre Dankbarkeit im Chor: „Wir haben keine Angst.“ Allein auf der Bühne präsidiert der „Kapselan“, als Hohepriester dieser Gesellschaft, verkörpert von Jing Xiang. „Seid Ihr gern beisammen?“, fragt der Kapselan seine Jünger. „Nein“, antworten diese, „wir sind nicht gern beisammen!“ Tatsächlich weichen auch die Schauspieler jeder Berührung aus. Ziehen sich in eine Lücke zwischen Holzvertäfelung und Proszenium zurück, wenn ihnen ein Mitspieler zu nahe kommt. Messen Abstände mit in rot-weißen Signalfarben bemalten Latten. „Die Aufführung ist unter Einhaltung angemessener Hygiene und geltender Abstandsvorgaben entstanden“, heißt es im Kleingedruckten des Programmheftes. Einmal balanciert Jing Xiang, der Kapselan, eine wippende Abstandsschranke bis hin zu unseren Sitzen in der vierten Reihe und lächelt dabei verschwörerisch.

Als Elias Canetti sein Gedankenspiel in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schrieb, hatte sich die Dystopie noch nicht als Phänomen der Massenunterhaltung durchgesetzt. Heute ist sie ein Klischee der Jugendliteratur. Weshalb viele Szenen der „Befristeten“ – ein Kind, das nicht lesen lernen will, weil es weiß, dass es mit zehn Jahren stirbt; ein Junge, der zählt, wie viele Gutenachtküsse er noch von einer Mutter namens 32 zu erwarten hat – doch sehr schematisch wirken, wie vorgestanzt für die die Deutschklausur. Johan Simons versucht erst gar nicht das Schablonenhafte des Textes zu überspielen, er betont es sogar, als wolle er noch einmal am Nullpunkt des Nachkriegstheaters anfangen. Um so stärker tritt die soziale Situation in den Vordergrund. Die unsichtbare vierte Wand ist durch die großen Lücken im Zuschauerraum verpufft. Der Stücktitel, er könnte alle im Theater An- und Abwesenden meinen. Selbstredend gibt es auch hier einen, der stellvertretend für uns gegen die herrschende Ordnung aufbegehrt, so wie John Savage in „Schöne neue Welt“ oder Winston Smith in „1984“. In Bochum weigert sich Stefan Hunstein als „Fünfzig“ an die Vorherbestimmung seines Todeszeitpunktes zu glauben. Vielleicht, sagt er frei heraus, ist es alles nur ein Aberglaube?

Das Publikum spiegelnd, hockt Hunstein auf einem der im Parkett fehlenden Klappsitze, eine Mundschutzmaske tragend, die er sich daraufhin ebenso entschlossen herunterreißt, wie die Kapsel, die jeder um den Hals tragen muss. Sie ist leer. Sie sind alle leer. Die Gesellschaft der Befristeten bricht in sich zusammen und mit ihr die Ordnung und Sicherheit, die sie ihren Mitgliedern gewährt hat. Im folgenden Aufruhr kommt es zum ersten Mord. Ein Mann würgt eine Frau, drückt sein Knie gegen ihre Kehle, in der schrecklichen Ikonographie des Mordes an George Floyd durch den Polizisten Derek Chauvin. Uns Zuschauer beschäftigt eine ganz andere Frage. Auch hier findet sich die Antwort im Programmheft: Die an der Szene beteiligten Schauspieler, Gina Haller und Risto Kübar, leben in einer Wohn- und Infektionsgemeinschaft zusammen. Sie dürfen sich berühren. Doch das heißt in diesem Fall nichts Gutes.

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