Buch des Monats - OktoberDas rote Jahrhundert

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Natürlich sprengt das Buch jedes vertraute Maß. Mit 1300 Seiten gehört es zum Allerdicksten, was die Belletristik aktuell zu bieten hat. Wer sich darauf einlässt, kommt so schnell nicht zum Ende, und wer sich bei der Lektüre Zeit lässt, für den wird „Das achte Leben (Für Brilka)“ genau das, was wir in dieser Rubrik vorstellen wollen: Ein Buch des Monats. Aber selbstverständlich ist es nicht die Dauer, die zählt, sondern die Qualität. Und die hat es in sich. Die ist meisterlich.

Nino Haratischwili, 1983 in Tiflis (Georgien) geboren und heute in Hamburg lebend, entfacht gleich auf den ersten Seiten ein solches Feuer, dass der Leser gar nicht mehr umhin kommt, sich in den Fäden ihrer Geschichte zu verfangen. Und das Netz, das sie spinnt, ist stark und weit. Zeitweise wähnt man sich an die ganz großen Erzählungen erinnert, an „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez oder an die „Mitternachtskinder“ von Salman Rushdie. Denn auch hier finden welthistorische Ereignisse und private Lebensstationen aufs Schönste zueinander. Ja, Haratischwili lässt es krachen und funkeln. Auch wenn es meistens nicht gut ausgeht – in Düsternis versinkt der Leser nie, wohl aber in dauerhafte Spannung.

Georgische Familiensaga

Stasia, die im Jahre 1900 geboren wurde, steht am Anfang dieser georgischen Familiensaga. Und wenn wir ans Ende des Romans ankommen, wenn das „Buch 8“ erreicht ist, dann steht dort „Brilka“ in der Überschrift. Das ist womöglich der Abschnitt, der am verlockendsten von allen ist – weil er noch geschrieben werden muss. Denn Haratischwilis Werk endet tatsächlich mit dem „Buch 7“, das Niza selbst gewidmet ist, der Ich-Erzählerin.

Ich verdanke diese Zeilen einem Jahrhundert, das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofften. Ich verdanke diese Zeilen einem lange andauernden Verrat, der sich wie ein Fluch über meine Familie gelegt hatte.

Mit dem Rückblick auf ihre Familie versucht Niza, einen Fluch zu brechen. Jedenfalls hält sie die Unfähigkeit zum Glücklichsein für einen solchen Fluch. Und Brilka, die junge Nichte, soll diesem Fluch entkommen. Sie soll das Zauberkind sein, das endlich glücklich wird. Das nicht enttäuscht, betrogen, geschlagen, verraten oder unterdrückt wird. Das nicht das Schicksal erleidet, das zumal den Frauen in diesem Roman widerfährt. Sie soll die Liebe finden. Und bewahren.

Niza mag es als Fluch bezeichnen, was sie und ihre Vorfahren ertragen müssen. Dazu zählt dann freilich auch, dass die Familie Jaschi in einer Zeit und einer Weltenecke lebt, die keine Ruhe findet. Da kommt alles vor, was den real existierenden Sozialismus prägt. Alle „Säuberungen“ und alle Arbeitslager, alle Überwachung und alle Willkür, die eine solche Diktatur ausmachen. Einmal, als die Presse den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 als Friedenszeichen feiert, spottet Ida: „Dabei geht es um zwei Irrsinnige, die sich gegenüberstehen und die Welt für sich und ihre Ideologien missbrauchen, die vor nichts haltmachen, ist das nicht wirklich komisch, Kostja? Zwei Irrsinnige werden es doch nicht zulassen, dass einer von ihnen größer wird als der andere.“ So ist dieser Roman ein Geschichtsbuch im doppelten Sinne. Und ein literarisches Museum, in dem die Zeitläufe ausgestellt werden, ist es auch.

Reise aus dem alten Europa in das neue

„Uns verbindet ein Jahrhundert“ sagt Niza zu ihrer Nichte. „Ein rotes Jahrhundert.“ Der Roman wird zu einer Reise aus dem alten Europa in das neue, vom Sturz der Romanows bis über das Zerbrechen der UdSSR hinaus. Von Lenin und Stalin über Chruschtschow und Gorbatschow bis ins Heute. Von Tiflis und Sankt Petersburg nach London und Berlin. Es geht darum, die Nacht wegzuschreiben. „Durchbrich diese Geschichte“, ruft Niza der Nichte zu, „und lass sie hinter dir.“

Mit Anastasia, Stasia genannt, lässt Niza alles beginnen, denn mit dieser Urgroßmutter fange ihre eigene Geschichte an – und nicht erst bei der Geburt, mehr als 70 Jahre später. Stasias Selbstbewusstsein ist typisch für die Frauen der Familie. Als sie Bekanntschaft macht mit Oberleutnant Simon Jaschi, zögert sie nicht, ihn auf den neuesten Stand der Emanzipation zu bringen. Ob Männer und Frauen gleich seien? Ihre Antwort: „Ich bin nicht der Meinung, dass sie gleich sind. Ich bin der Meinung, dass Frauen besser sind.“ Die Kunst des Dialogs, dies fällt schon hier auf, beherrscht Haratischwili, Absolventin der Hamburger Theaterakademie , souverän.

Familiengeheimnis Schokolade

In diesem ersten Buch auch werden wir eingewiesen in eines der größten Familiengeheimnisse – in das der Schokolade. Nizas Ururgroßvater hatte so lange gesucht und probiert, bis er eine Schokoladenmischung gefunden hatte, die buchstäblich unwiderstehlich ist. Allerdings darf man die Heiße Schokolade aufgrund ihrer außerordentlichen Wirkkraft nur fein dosiert genießen. Eine Aufforderung, die nicht immer leicht einzuhalten ist, wenn es mal wieder etwas trauriger zugeht.

Buch 2 macht weiter mit Christine, die sich auf den brutalen KP-Chef Georgiens einlässt, den „kleinen großen Mann“, aktenkundig als Lawrenti Beria. Aus dieser Gefangenschaft als erster Haremsdame befreit sie ihr Ehemann, indem er ihr Salzsäure ins Gesicht schleudert: „Es wird sonst nicht aufhören.“ Buch 3 ist Kostja, gewidmet, der auf der Marineakademie Giorgi trifft, der zum einzigen Freund wird. Und er verfällt Idas Schönheit, die so gefährlich ist, dass man daran zugrunde gehen kann. Buch 4 erzählt von Kitty, der Sängerin, und ihrer Flucht vor dem Geheimdienst nach Prag und weiter nach London – wobei sie von einem Fremden unterstützt wird, der viel später zu einem Freund wird. Buch 5 widmet sich Elene, die früh zur Mutter wird – und unsere Erzählerin Niza am 8. November 1973 zur Welt bringt. Der Vater sitzt derweil wegen eines Autodiebstahls im Gefängnis. Buch 6 macht mit Daria bekannt, Nizas Schwester und Brilkas Mutter, die alkoholisiert zu Tode stürzt – vielleicht ein Selbstmord. Die Männer machen auch in diesem Kapitel keine gute Figur. Schließlich Buch 7, in dem es um Niza geht, die sich durchringt, ihre Isolation aufzugeben. Und die sich einlässt auf ihre Nichte. In dem Vornamen Niza steckt die georgische Bezeichnung für „Himmel“. Ob Niza diesen auf Erden noch finden wird, ist nicht ganz sicher. Aber es sieht ganz danach aus, dass Brilka ihr diesen Himmel bereiten könnte. Das achte Buch muss jetzt geschrieben werden.

Bogen quer durchs Jahrhundert

Nino Haratischwili hat den langen Atem, um diesen großen Bogen quer durchs Jahrhundert zu schlagen. Natürlich erzählt sie die Geschichten nicht so fein sortiert wie es hier den Anschein haben mag. Vielmehr überlappen sich die Lebensstränge wie im richtigen Leben. Das eine greift ins andere, verschwindet für eine Weile und taucht dann wieder an anderer Stelle auf. Gewiss, nicht jeder Absatz ist unverzichtbar. Und gewiss hätte der deutschen Fassung eine noch genauere Korrektur den einen oder anderen Fehler ersparen können. Doch das sind Marginalien in einem Opus, das auch dadurch verblüfft, trotz all der geschilderten Nöte nicht resignativ zu wirken. Im Gegenteil: Die Kraft der Frauen, ihre Widerständigkeit und ihre Ausdauer, verleihen dem Roman eine große Energie. Die Heldinnen dieser Saga halten uns auch über die lange Strecke bei Leselaune. Ein Schmöker, ein Schatz.

Nino Haratischwilis „Das achte Leben (für Brilka)", Frankfurter Verlagsanstalt, 1280 Seiten, 34,95 Euro.

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