In dem Buch „Der blinde Fleck“ schreibt der Journalist Stephan Lebert zusammen mit dem Psychologen Louis Lewitan über die Spuren, die die Nazi-Zeit bei den Nachfolgegenerationen hinterlassen hat.
Das Erbe der Nazi-Zeit in den Familien„Menschen spüren einfach, dass noch etwas geklärt werden muss“

Hitlerjugend in Westfalen,1930er Jahre.
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Herr Lebert, Sie schreiben im Vorwort, dass man nach der Lektüre möglicherweise ein anderer Deutscher ist als vorher. Wie ist es Ihnen denn beim Schreiben gegangen: Waren Sie nach dem Schreiben des Buches ein anderer Deutscher als vorher?
Ja, definitiv. Das ist in Deutschland tatsächlich ganz seltsam: Die Beziehung zu den eigenen Familiengeschichten ist wie abgerissen. Das gibt es so, glaube ich, in keinem anderen Land. Und während des Schreibens des Buches ist mir das immer klarer geworden. Und auch, wie wenig ich selbst über meine eigene Familiengeschichte wusste. Deshalb bin ich am Ende der Arbeit definitiv ein anderer Deutscher gewesen als zu Beginn.
Hat das dazu geführt, dass Sie auch mit Ihrer eigenen Verwandtschaft nochmal anders über das Thema gesprochen haben als vorher?
Ja, absolut. Weil meine Eltern schon tot sind, konnte ich darüber nur noch mit meinem Bruder sprechen und der weiteren Familie. Und ich habe auch einen Antrag gestellt beim Bundesarchiv - da bin ich gerade noch mittendrin in der Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte.
In Ihrem Buch geht es um das hartnäckige, kollektive Schweigen der Deutschen über das, was sie und ihre Verwandten in der Nazizeit getan und erlebt haben. Wie kann man es denn überhaupt schaffen, dieses Schweigen zu brechen?
Ich habe für das Buch ja viele Gespräche geführt und dabei ist bei mir der Eindruck entstanden, dass eine richtige Beschäftigung mit dem Thema manchmal tatsächlich erst nach dem Tod der Eltern oder Großeltern möglich ist – auch wenn das natürlich eine Merkwürdigkeit ist. Weil man nicht mehr den direkten Kontakt finden konnte und sich vielleicht auch vor Fragen, vor diesem Gespräch gefürchtet hat.
Was, glauben Sie, motiviert Menschen, sich trotz der oft massiven Widerstände um Aufklärung zu bemühen?
Eine Motivation, so eine Reise in die Vergangenheit anzutreten, ist sicher, dass man spürt, dass an der eigenen Familiengeschichte irgendwas nicht stimmt - oder dass irgendwelche Informationen fehlen. Die Autorin Charlotte Link hat mir erzählt, dass ihre Mutter unter extremer Platzangst litt und nie einen Fahrstuhl betreten hat - selbst wenn sie in den 17. Stock musste. Erst als Erwachsene hat Charlotte Link erfahren, dass ihre Mutter als kleines Kind drei Tage verschüttet war. Das sind so kleine, scheinbar harmlose Geschichten. Aber wenn man einmal anfängt, nach dem Warum zu fragen – dann will man mehr wissen. Wenn man sich zum Beispiel fragt: Warum hat die Mutter eigentlich dieses spezielle Problem? Oder warum gab es in der Familie diese seltsame Tante? Ganz oft sind spielen auch Suizide in Familien eine Rolle. Dann fängt man an zu recherchieren. Und natürlich kann man das tun - auch wenn vielleicht nicht jede und jeder sprechen will oder kann. Denn so eine Familie ist ja groß. Es gibt zum Beispiel immer auch Gleichaltrige: Cousins, oder irgendjemand, der die Mutter oder den Vater auch noch kannte. Ich bin Jahrgang 1961. Und auch ich kann noch Informationen zusammentragen. „Weißt du eigentlich, was damals war?“ Mit dieser Frage kommt man oft schon ein bisschen weiter. Aber vor allen Dingen gibt es natürlich das große Feld der Archive. Und das ist ein Schatz, den jeder heben kann.

Stephan Lebert
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Wie kommt es, dass solche Themen aller Verdrängung zum Trotz heute auf einmal an die Oberfläche kommen?
Es gibt in diesem Land eine Zweiteilung: Eine große Anzahl von Deutschen, die nach wie vor mit diesem Thema nichts zu tun haben wollen. Die empfindlich reagieren darauf, wann es immer heißt, man muss sich mit der deutschen Geschichte befassen. Dazu gehören sicher auch AfD-Anhänger. Und dann gibt es die andere Seite. Bei denen es ein Gefühl gibt, dass in ihrer Familien noch Fragen offen sind. Oft kommt das hoch, wenn Menschen gestorben sind. Und bei meiner Recherche habe ich auch erfahren: Wenn man sich selber nicht seinem eigenen Trauma stellt, es nicht bearbeitet – dann überträgt man es an seine Kinder. Menschen spüren einfach, dass noch etwas geklärt werden muss.
Wenn man sich selber nicht seinem eigenen Trauma stellt, es nicht bearbeitet – dann überträgt man es an seine Kinder.
Wird die Rolle der 68er bei der Aufarbeitung der deutschen Geschichte verklärt?
Ich glaube schon, dass die 68er ihre großen Verdienste haben. Die Deutschen haben ja - auch entscheidend angetrieben durch die 68er - ihre Verdienste in der Aufarbeitung, in der Betrachtung der Geschichte als Allgemeinheitsformel: „Die Deutschen“ und ihre Verbrechen. Da ist ganz viel passiert. Da gibt es viele Museen, wissenschaftliche Arbeiten, Bücher. Nichts geschehen ist allerdings bei der Aufarbeitung in der eigenen Familie. Joschka Fischer hat mal zu mir gesagt, er konnte ohne Probleme auf einem Marktplatz schreien: „Jetzt Schluss mit der Verdrängung, wir wollen wissen, was geschehen ist! Aber nach Hause zu meinem Vater zu gehen und ihn zu fragen, was er damals getan hat – das habe ich mich nie getraut.“
Erstaunlich, dass wir Deutschen die offizielle Aufarbeitung so von der privaten trennen konnten.
Die Einzelgeschichten in den Familien wurden verdrängt. Sie können in Ihrem gesamten Freundeskreis fragen: Was wisst ihr eigentlich darüber, was eure Familie 1943 bis 45 gemacht hat? Das kann man praktisch wie eine Art Gesellschaftsspiel machen. Und man ist erstaunt, wie wenig die Leute wissen. Naja, so erstaunt muss ich jetzt eigentlich auch nicht sein – weil ich ja selber auch wenig wusste. Es gibt ein wunderbares Buch des israelischen Psychologen Dan Bar-On: „Die Last des Schweigens“. Er ist in den 1980er Jahren durch Deutschland gereist ist und wollte herausfinden: Wie geht es den Tätern? Sein Fazit war: Man weiß es nicht – denn die Täter gibt es offenbar nicht.
Sie schreiben, dass sich das kollektive Schweigen bis heute auf Deutschland auswirkt. Wie zum Beispiel?
Mir hat mal ein israelischer Freund erzählt, dass ihm früher oder später immer Familiengeschichten erzählt werden. Überall, wo er in der Welt unterwegs ist, erzählen Menschen ihm von ihren Omas und Opas. „Aber bei euch in Deutschland: Null. Ihr erzählt keine Geschichten von euren Familien.“ Dabei haben diese ganzen Familien natürlich Geschichten, oft dramatische, die sich auch auf die kommenden Generationen ausgewirkt haben. Aber die werden einfach nicht erzählt. Und dieses Schweigen führt zum Beispiel auch dazu, dass die Deutschen nicht gut trauern können. Ich habe mal in Berlin recherchiert, am Breitscheidplatz, wo es den Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt gab. Wenn man heute die überlebenden Opfer und die Angehörigen trifft, dann sind die bitter enttäuscht, weil niemand ihren Schmerz versteht. Und das ist ein allgemeines Phänomen in Deutschland. Die Deutschen haben mit dem Schweigen auch ihr eigenes Trauerverhalten verändert. Und das merkt man bis heute.
Wirkt sich diese Kultur des Verschweigens auch auf deutsche Politiker aus?
Meine persönliche These ist, dass es auch an diesem Schweigen liegt, dass deutsche Politiker oft so farblos sind. Blasse Figuren, Teflon-Politiker. Mitte September gab es dann eine ganz andere Szene, die viele ergriffen hat. Bei der Eröffnung einer Synagoge in München Mitte September hat Friedrich Merz gesprochen und plötzlich mit den Tränen gekämpft, als er gesagt hat: Wie kann das möglich sein, dass den Juden nicht geholfen wurde in Deutschland?! Und ich würde so gerne mit ihm darüber sprechen, ob es auch damit zu tun hat, dass es in seiner Familie einen SA-Offizier gab: Seinen Großvater. Und ob diese Emotionalität, die es da bei ihm gibt, auch damit zu tun hat.
Glauben Sie, das kollektive Verdrängen nach dem Zweiten Weltkrieg steht in einem Zusammenhang mit der Frage, ob Deutschland heute noch anfällig für rechtes Gedankengut ist?
Ich weiß gar nicht, ob das Schweigen damit zu tun hat. Vielleicht insofern, dass das Reden hilft, sich bewusst zu werden, dass der Mensch anfällig ist für das Böse. Man darf sich nicht so groß moralisch erheben, sondern es ist glaube ich sogar hilfreich, seinen eigenen Abgründen nachzuspüren. Das macht einen vielleicht eher immun gegen mögliche Taten, als wenn man reflexhaft sagt: Ich doch nicht!
Es ist absurd: Die Deutschen begreifen sich eher als Opfervolk denn als Tätervolk. 80 Prozent der Deutschen glauben zum Beispiel, ihre Familien seien Regimegegner gewesen.
Die Zahlen machen einen sprachlos, oder? Ich glaube, dass das eine politische Dimension hat. Denn Leute, die selber Täter waren und es dann ignoriert haben, sind ja auch oft auf eine krasse Art selbst kaputtgegangen an ihrem Schicksal. Und wenn jemand, der sich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt, dabei diesen unendlichen Schmerz nachvollzieht - dann kann man doch eigentlich nicht wirklich darauf aus sein, wieder einer nationalsozialistischen Ideologie nachzuhängen.
Stephan Lebert, Jahrgang 1961, ist Redakteur für besondere Aufgaben bei der Wochenzeitung „Die Zeit“. Im Jahr 2000 veröffentlichte er das Sachbuch „Denn Du trägst meinen Namen“ über das Erbe prominenter Nazi-Kinder.
Wie sich verdrängte Traumata des Krieges bis heute auf die Gegenwart auswirken - darum geht es am Donnerstag, 23. Oktober, um 19.30 bei einer Veranstaltung im Kölner Literaturhaus. Stephan Lebert und der Psychologe Louis Lewitan sprechen über ihr Buch „Der blinde Fleck“ (Heyne). Und auch Lina Schwenk erzählt in ihrem Romandebüt „Blinde Geister“ (C.H.Beck) von transgenerational weitergegebenen Ängsten, Sprachlosigkeit und dem Versuch, sich davon zu befreien. Tickets kosten 11/13 Euro.
Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 ist der Titel einer Ausstellung, die bis zum 4. Januar im Kölner NS-Dokumentationszentrum zu sehen ist. Begleitend gibt es viele Veranstaltungen, unter anderem eine Podiumsdiskussion am Donnerstag, 11. Dezember, um 18 Uhr zum Thema: „Bewegte Blickwinkel auf Familiengeschichte(n) – Angehörige ausgegrenzter und verfolgter Menschen im Nationalsozialismus sprechen“.