Dave Gahan"Ich bin durch die Hölle gegangen"

Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan.
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Mr. Gahan, Sie treten mit Depeche Mode demnächst an Orten auf, die von internationalen Pop-Stars nur selten bespielt, meistens ganz gemieden werden: Sofia, Kiew, Bratislava, Minsk oder Zagreb beispielsweise. Was reizt Sie daran?
DAVE GAHAN: Wir wollten von Anfang an zwei Dinge: Die Welt sehen und überall dort spielen, wo uns Leute hören wollten. Selbst als diese Orte noch hinter dem Eisernen Vorhang lagen, sind wir dorthin gefahren. Das ließ sich mit unserem Job meistens gut verbinden.
Auftakt der neuen Tour ist ausgerechnet in Tel Aviv. 2006 mussten Sie Ihr Konzert dort wegen des Libanon-Krieges absagen...
GAHAN: Ja, das haben wir sehr bedauert. Das geschah, als bereits das Ende der Tour in Sicht war. Jeder von uns war müde, aber es stand noch die Show in Tel Aviv an. Als wir in der Türkei waren, wurde berichtet, dass Raketen auf Tel Aviv abgefeuert wurden. Dennoch waren wir als Band entschlossen, dort aufzutreten.
Hatten Sie keine Angst?
GAHAN: Nein, wir selbst waren nicht um unsere persönliche Sicherheit besorgt. Aber es ging ja nicht nur um uns. Wir waren ja auch für die 50.000 Menschen in dem großen, offenen Park verantwortlich, in dem wir spielen sollten. Da wurden dann die unterschiedlichen Bedrohungsszenarien durchgespielt: Was wäre, wenn sich ein Terrorist unter die Zuschauer mischte und womöglich eine Bombe zündete? Außerdem hatte uns die Hälfte unserer Crew unmissverständlich klargemacht: "Ihr könnt uns feuern, aber wir fahren da nicht hin." Also sagten wir ab, obwohl wir viele Fans in Israel damit maßlos enttäuschten. Wir sind dann bei der nächsten Tournee 2009 dort aufgetreten.
In den 80er Jahren durften Depeche Mode als eine der wenigen westlichen Bands viele Konzerte in damaligen Ostblock-Ländern wie Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR spielen. Wie schwierig war es, als Westband dort aufzutreten?
GAHAN: Es gab jede Menge Hürden, die man überwinden musste. Die erste war: Man musste überhaupt erst einmal reingelassen werden hinter den Eisernen Vorhang. Wir mussten unser Management immer wieder fragen: Können wir in Polen spielen? Können wir in Ost-Berlin spielen? Unsere Agenten fragten dort immer wieder an, und wenn sie irgendwann eine Einladung bekommen hatten, sagten wir meistens sofort zu. Für uns war das auch ein kleines, reizvolles Abenteuer - keine andere westliche Band fuhr da hin! Denn den meisten waren diese Länder völlig egal. Außerdem konnte man mit den Konzerten im Osten kein Geld verdienen: Polnische Zloty oder tschechische Kronen konntest du ja nicht umtauschen, wir konnten also nicht mal unsere Produktionskosten decken. Die waren damals aber auch noch nicht annähernd so hoch wie heute. Wir waren einfach neugierige, junge Burschen, die darauf brannten; die überall auftreten wollten. Die Leute wollten uns hören, also fuhren wir hin.
Ihr Bandkollege Martin Gore lebte von 1985 bis 1987 mit seiner deutschen Freundin sogar in West-Berlin, nahe der Mauer. Sie nahmen im Hansa-Studio Ihre Alben "Some Great Reward" und "Black Celebration" auf. Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit, als Berlin noch Grenzstadt war und keine Schnittstelle zwischen Ost und West?
GAHAN: Wann immer ich in den letzten Jahren in Berlin war, dachte ich: Unfassbar, wie sich die Stadt seitdem verändert hat und ständig weiter verändert. West-Berlin war damals eine kleine Insel. Fast wie das Greenwich Village in New York, wo ich heute lebe: ganz anders als der Rest des Landes. So war Berlin auch offener, kreativer, aufregender, großstädtischer, multikultureller als der Rest von Deutschland. Die Zeit, als wir in den Hansa-Studios direkt an der Mauer arbeiteten, hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Ich weiß noch, wie wir aus dem Mix-Raum guckten - und fast direkt auf die Wachposten blickten. Unheimlich, sich das heute vorzustellen.
Am 7. März 1988 gaben Depeche Mode ein inzwischen legendäres Konzert in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle in Prenzlauer Berg. War das, abgesehen von der Neugier, die Sie zu solchen Grenzüberschreitungen antrieb, ein politisches Statement?
GAHAN: Nein. Die politischen Deutungen unserer Auftritte interessierten uns kaum. Wir waren jung, freuten uns darüber, dass wir auch in der DDR ein riesiges Publikum hatten. Wir dachten nicht in Kategorien wie: Ist das jetzt richtig oder falsch, anbiedernd oder rebellisch? Im Grunde stellten wir uns immer wieder dieselben Fragen: Können wir da hinfahren? Können wir da auftreten? Und wenn unser Manager meinte: "Könnte klappen", jubelten wir: Auf geht's!
Ihr Bandkollege Andy Fletcher sieht das etwas kritischer. Er sagte uns, Depeche Mode seien öfter von den Regimes für deren Zwecke eingespannt worden.
GAHAN: Das ist verzwickt. Einerseits stimmt das. Auch bei unseren Konzerten in der DDR wurden wir wohl von der Partei ausgenutzt - allein schon in dem Sinne, dass sie sich selbst als modern darstellen konnten, nur weil sie uns auftreten ließen. So gaben sie sich übrigens auch uns gegenüber. Auch wenn wir nach Polen oder Tschechien kamen, wurden wir dort von den Veranstaltern und Sicherheitsleuten unglaublich hofiert.
Aber ist so was bei Rockstars nicht gang und gäbe?
GAHAN: Das hatte noch mal eine andere Dimension. Die Verantwortlichen in den Ostblock-Ländern legten sich auf sehr übertriebene Art ins Zeug, wohl, um uns zu beweisen, wie gut und normal das Leben in ihren Ländern doch sei. Wir wurden beispielsweise in dekadente Hotels gesteckt, und dort sagte man uns ständig: "Seht her, auch wir haben - Eier! Wir haben alles, was ihr aus dem Westen kennt!" Aber wir waren ja nicht blöd. Wir wussten natürlich, dass es den Menschen außerhalb des Hotels nicht annähernd so gut ging wie uns da drinnen.
Sie bereuen nicht, dort aufgetreten zu sein?
GAHAN: Wir waren getrieben von der Idee, dass Musik keine Grenzen kennt. Wir fanden und finden nach wie vor, Musik darf nicht zensiert werden. Man darf niemandem verbieten, diese oder jene Musik zu hören, weil sie als subversiv gilt. Auch das haben wir erlebt. Wir dürfen beispielsweise bis heute nicht in China auftreten, weil bestimmten Moralwächtern Inhalte unserer Songs nicht passen. Erst vor ein paar Jahren haben sie noch alle unsere Texte kontrolliert - und uns dann abgelehnt.
Welche Lieder waren den Chinesen zu subversiv - "People are People"?
GAHAN: Das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Ich schätze, Sie sahen in uns vor allem Botschafter des freien Westens. Sie fürchteten offenbar, dass schon die Konzerte wie eine Art Werbung für westliche Werte wirken. Obwohl wir uns selbst nie in dieser Rolle gesehen haben. Für die Jugend in all diesen Ländern stand Depeche Mode sicher auch für Werte wie persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Freiheit der Kunst, ohne dass wir das explizit in unseren Songs ausgesprochen hätten. Vielleicht haben wir diese Jugend durch unsere Auftritte ein bisschen inspiriert oder ermutigt. Manchmal fühlte es sich so an.
Woran machen Sie das fest?
GAHAN: Als wir beispielsweise 1988 zum ersten Mal in Ost-Berlin die Bühne betraten, lag etwas in der Luft. Wir konnten eine besondere Euphorie spüren, die vom Publikum ausging. Die Tatsache, dass wir dort spielten, war etwas Besonderes für die Zuschauer dort. Und für uns hat sich das genauso angefühlt. Manchmal spürten wir jedoch bei unseren Konzerten im Ostblock genau entgegengesetzte Gefühle - eine Angespanntheit und Angst. Das spüre ich auch heute noch manchmal, wenn wir in Krisengebieten auftreten. Wenn sich beispielsweise Songs verselbstständigen. Je nachdem, wo wir auftreten, können sie ganz anders gedeutet werden. "Walking In My Shoes" wurde vor der politischen Wende von vielen Zuschauern in Osteuropa wie eine Art Volkslied gefeiert. Alle singen mit: "Ich würde dir von all dem erzählen, was sie mir angetan haben / all dem Schmerz, dem man mich aussetzte ... Bevor du deine Schlüsse ziehst, versuch einmal, dich in meine Lage zu versetzen." Wenn das Zehntausende mit unglaublicher Inbrunst mitsingen, ist es, als würde ihnen der Song aus der Seele sprechen.
Vielleicht wird das am Ende Ihrer Tournee wieder so sein, dann spielen Sie erstmals in Minsk, in Weißrussland . . .
GAHAN: Wieder so ein Ort, an dem vor uns noch keine westliche Band spielte.
Aus gutem Grund: Das Land gilt als letzte Diktatur Europas. Menschenrechtsorganisationen fordern, solche Staaten zu boykottieren.
GAHAN: Unser Weg ist heute der gleiche wie damals. Wir wollen in solche Länder fahren, um die Menschen dort zusammenzubringen. Wenn wir in Minsk spielen, werden im Stadion Leute aus allen politischen Lagern sein. Aber in unserem Konzert sind sie vereint.
Können Sie sich vorstellen, dann Ihre privilegierte Position zu nutzen, indem Sie beispielsweise die Internetzensur des weißrussischen Diktators Lukaschenko kritisieren?
GAHAN: Gewöhnlich sage ich schon ein paar Sätze zu der Situation vor Ort. Nur will ich damit keinen Spalt durchs Publikum treiben. Ich will so ein Konzert nicht anders aufbauen, nur weil es in Minsk und nicht in Berlin oder Kalifornien stattfindet. Ich sehe eher das Einende: Auch in Weißrussland gibt es Menschen, die seit Jahren unsere Musik hören. Das verbindet sie mit uns und mit dem Rest der Welt. Und diese Verbindung will ich nicht zerstören. Ich will auf der Bühne keine Politik predigen, das ist Bonos Job.
Mr. Gahan, über Ihre Lebenskrise in den 90er Jahren ist viel öffentlich geworden: wie Sie mit Ihrer Drogensucht kämpften, einen Suizidversuch begingen, sich zweimal scheiden ließen, 1996 nach einer Überdosis Heroin schon klinisch tot waren und nur knapp gerettet wurden. Holt Sie diese Zeit manchmal noch ein?
GAHAN: Ich bin mit mir im Reinen. Ich bin durch diese Hölle gegangen und tatsächlich versetzen mich einige unserer Songs mental noch immer in diese Zeit zurück, wenn wir sie spielen. Aber heute weiß ich, wie ich da hineingeraten bin und kann rechtzeitig die Bremse ziehen.
Als Gastsänger des englischen Musikprojekts Soulsavers haben Sie auf deren neuer CD "The Light the Dead See" mitgewirkt: Das Licht, das die Toten sehen. Ein Kommentar zur Medien-Aufmerksamkeit für Ihre eigene Wiederkehr von den Toten?
GAHAN: Nennen Sie es Galgenhumor. Ich mag solche Poesie: düster, aber zugleich humorvoll in ihrer Dunkelheit. So wie die Geschichten von Edgar Allan Poe. Du brauchst Humor im Leben. So schwer, wie es manchmal ist, würden wir sonst alle nur in der Ecke sitzen und heulen.
Depeche Mode spielen am 3. und 5. Juli 2013 in Düsseldorf. Karten kosten zwischen 71 und 86 Euro im Vorverkauf. Voraussichtlich im April kommenden Jahres erscheint ein neues Studioalbum der Band.
Weitere Konzerte in Deutschland: München, 1. Juni; Stuttgart, 3. Juni; Frankfurt, 5. Juni; Berlin, 9. Juni; Leipzig, 11. Juni; Hamburg, 17. Juni.