Der erste Faschismus

Der Hafen von Rijeka heute mit italienisch-barocker Pracht und einem Rest von K.-u.-k.-Ambiente
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Wer auf dem Weg in den kroatischen Süden die Hafenstadt Rijeka umfährt, dürfte auf Anhieb nicht begeistert sein. Gesichtslose Wohnsilos noch aus sozialistischer Zeit, schäbige Industrieareale, das Gewirr viel befahrener Hochstraßen – nein, „klassisches“ Mittelmeerflair, wie gerade der Deutsche es liebt, ist anders. Die hässlichen Außenbezirke sind denn auch nicht der Grund dafür, dass die unweit der Grenzen zu Italien und Slowenien gelegene Adria-Metropole gemeinsam mit dem irischen Galway eine der Kulturhauptstädte Europas 2020 ist. Dafür ist eher der Universitäts- und Kulturstandort mit einem überregional bekannten Karneval (!) maßgebend. Die Altstadt am Hafen dominieren prachtvolle Kirchen und Paläste – ein barockes und ziemlich italienisches Ambiente herrscht hier. Und noch eine schön Portion „k. u. k“ – denn bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gehörte Rijeka zur habsburgischen Doppelmonarchie, regiert von Budapest aus.
Warum Rijeka gerade in diesem Jahr Kulturhauptstadt ist? Man könnte glauben, es stünde eine Hundertjahrfeier ins Haus – wenn es da etwas zu feiern gäbe. 1920 nämlich – genauer: von September 1919 bis zum Jahreswechsel 1920/21 – war Rijeka italienisch, besser: italienisch besetzt, hieß auch, jedenfalls seitens der Besatzer, Fiume. Warum es zum Jubiläum nichts zu feiern gibt? Nun, die international nie und nicht einmal von der Zentralregierung in Rom anerkannte „Reggenza Italiana del Carnaro“ war eine kurze Episode in der langen Geschichte der Stadt, eine Episode mit grotesken Zügen, verständlich nur vor dem Hintergrund des gerade zu Ende gegangenen Krieges.
Warum sie trotzdem für Historiker interessant ist? Weil sich dort in dieser Form neuartige Phänomene der Massenmobilisierung und -steuerung, eines Führerkults und eines heroischen, chiliastisch-gewaltbereiten Tatendrangs aufseiten der Anhänger zeigten, wie sie wenige Jahre später für den Faschismus charakteristisch werden sollten. Fiume als Flammenschrift – als welche sie indes nur dem Nachgeborenen lesbar ist.

Gabriele D’Annunzio
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Was also geschah? Zornentbrannt über das für Italien schmähliche Resultat des Krieges (an dem das Land seit 1915 aufseiten der Entente teilnahm), war der Dichter Gabriele D’Annunzio mit desertierenden Einheiten der Armee nach Fiume marschiert und hatte die Stadt in seine Gewalt gebracht, weil die französischen und englischen Besatzungstruppen kampflos das Feld räumten. Fortan sollte Fiume – den nicht eingehaltenen Versprechungen der Alliierten zufolge – italienisch sein.
D’Annunzio, der bereits zu Kriegsbeginn mit kaum verhüllten Mordaufrufen gegen Italiens Regierungschef Giulitti für ein Maximum an gewaltträchtiger Polarisierung in der Öffentlichkeit gesorgt hatte, entwickelte während seiner „Regentschaft“ einen bislang unbekannten Stil der Herrschaftsausübung: Er ließ sich „Führer“ nennen und hielt vor den delirierenden Massen vom Balkon des Munizipalpalasts irrational-aufpeitschende, die verletzte nationale Seele streichelnde Reden, in denen es um „Kraft“, „Ruhm“ und „Vaterland“ ging. Jene begleiteten sie mit neu erfundenen Kampfrufen. Die Legionäre posierten mit Schwarzhemden hinter Totenkopffahnen, den Dolch im Gürtel oder zwischen den Zähnen.
Dennoch ist es wohl zu einfach, die Existenzform Fiume als die „Kommune der Faschisten“ zu bezeichnen (wie der Titel von Kersten Knipps 2018er Buch). Schaut man in die „Carta del Carnaro“, die von d’Annunzio und dem Gewerkschaftler Alceste de Ambris entworfene „Verfassung“ für den neu gegründeten Stadtstaat, so entdeckt man Überraschendes: Sie bekräftigt die Rechtsgleichheit aller Bürger, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Sprache, Klasse, Religion; sie beruft sich auf demokratische Prinzipien wie Presse- und Versammlungsfreiheit, sie bedient eine fortschrittliche Bildungs- und Sozialgesetzgebung.
Das alles mag „spirituell“, lyrisch, unpraktisch sein – „faschistisch“ ist es nicht. Eine starke libertär-sozialistische, ja anarchistische Grundströmung mit Drogen, Sex und Ausschweifung konterkariert dann auch in der Lebenspraxis jene Vergottung des autoritären bis totalitären Staates, die der Faschismus dann ausprägte – zu dem der nach Italien zurückgekehrte D’Annunzio in den 1920er Jahren auf Distanz gehen sollte.
Die alliierten Regierungen und auch Rom hatten dem Dichter, den sie zu Recht für politisch unzurechnungsfähig hielten, gewähren lassen, weil sie keine Märtyrer produzieren wollten. Anfang 1921 war dann recht prosaisch Schluss: Im November 1920 hatten sich Italien und das neu errichtete Königreich Jugoslawien auf den Grenzverlauf zwischen beiden Ländern geeinigt, Fiume wurde zum „Unabhängigen Freistaat“ erklärt (er sollte bis 1924 Bestand haben). Reguläre italienische Truppen belagerten und beschossen die Stadt, D’Annunzio zog im Januar mit den letzten Getreuen ab.
Eine Farce nach der Tragödie des Weltkriegs? Ja, das auch, aber nicht nur. Auf jeden Fall eine Erscheinung, die sich nicht auf die Flaschen späterer politischer Ordnungsbegriffe ziehen lässt. Fiume war „links“ und „rechts“ gleichermaßen, Party und permanente Revolution, Rausch und Revolte, Erlösung und aggressive Feinderklärung. Es zeigt damit eine ähnliche Ambivalenz wie der Futurismus.
Sucht man nach historischen Vergleichsbeispielen, wird man freilich am ehesten noch in Übersee fündig. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand im nordostbrasilianischen Canudos um den charismatischen Wanderprediger Antônio Conselheiro – sozusagen den D’Annunzio des Sertão – eine Landkommune, die sich weigerte, dem fernen Staat Steuern zu zahlen und auch sonst eine Kultur der Verweigerung betrieb. Faschistische und kommunistische Züge – beide avant la lettre – verschmolzen dort auf eigentümliche Weise. Der Staat konnte des sich ausbreitenden Flächenbrandes nur mit Mühe und unter Einsatz massiver militärischer Mittel Herr werden – im Zuge der Auseinandersetzungen kam es zu apokalyptischen Gewaltausbrüchen. Euclides da Cunha verfasste, konsterniert über die Ereignisse, bei denen einerseits Mittelalterliches, andererseits auch Unbekannt-Hochmodernes zutage trat, eine historische Darstellung, auf deren Basis Mario Vargas Llosa dann seinen Roman „Der Krieg am Ende der Welt“ schrieb.
Man sollte aber den Vergleich zwischen Fiume und Canudos nicht strapazieren – Zeiten, Räume, Umstände waren verschieden. Dennoch: Hier wie dort werden Konfliktlinien sichtbar, die dann ein ganzes Jahrhundert durchziehen sollten. Die Frage, ob Fiume protofaschistisch oder -kommunistisch war, führt nicht weit. Ein Fanal war es allemal.
Fotos: dpa; Borko Vukosav/Rijeka 2020 European Capital of Culture/dpa