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Der österreichische Autor Gerhard Roth ist totEine grandiose Bilanz der Epoche

Lesezeit 4 Minuten
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Gerhard Roth ist 79-jährig gestorben.    

Graz – Heutzutage gilt es als vermessen, ja unfein, auf der Spur von Balzacs „Menschlicher Komödie“ oder Zolas „Rougon-Macquart“ riesige und als solche von vornherein konzipierte Romanzyklen in die Welt zu setzen. Anachronistische Großschriftstellerei? Ach was, der österreichische Autor Gerhard Roth, der soeben in seiner Heimatstadt Graz 79-jährig gestorben ist, begab sich so selbstverständlich wie erfolgreich auf die Spur der illustren Kollegen und baute über mehr als 30 Jahre hinweg mit fanatischer Beharrlichkeit an einem literarischen Riesenwerk, das sich im Moment seines Abschlusses – vor elf Jahren – tatsächlich als ein Ganzes darstellte: planvoll entworfen und durchgeführt, in sich schlüssig, von einem dichten intertextuellen Netz unterspannt.

15 Bände mit insgesamt 5500 Seiten umfassen die ihrerseits intern aufeinander bezogenen Zyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“. Anspannung und Anstrengung hätten, bekannte Roth im Interview, seinen Körper in Mitleidenschaft gezogen – das lange Sitzen beim Schreiben, der Bewegungsmangel; 15 Jahre habe er zumeist liegend verbracht. Ob solchen der Literatur geweihten Opfergangs in die Horizontale denkt der Leser gleich an einen anderen ihrer Giganten: an Marcel Proust.

Roth hatte nach dem Willen seines Vaters Arzt werden sollen, arbeitete dann aber als als Programmierer und Organisationsleiter im Grazer Computerrechenzentrum, um neben seiner literarischen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In den frühen 1970er-Jahren stieg er mit experimenteller Prosa ins Geschäft ein und wurde auch als Theaterautor („Lichtenberg“, „Sehnsucht“, „Dämmerung“) aktiv. Ein Vorschuss des Fischer-Verlags ermöglichte es ihm, sich ganz auf die Arbeit an den „Archiven des Schweigens“ zu konzentrieren.

Nun vermag auch das Triviale Riesenmaße anzunehmen und sogar dem Kriterium interner Stimmigkeit zu genügen. Davon aber kann bei Roth keine Rede sein. Exemplarisch aufgezeigt sei das Niveau seiner Dichtkunst am „Schlussstein“ des „Orkus“-Gewölbes, an dem Roman „Orkus. Reise zu den Toten“ eben aus dem Jahre 2011. Von hier aus stellt sich der Zyklus übrigens noch einmal als literarisierte und übrigens auch hochpolitische Epochenbilanz auf höchstem Reflexionsniveau dar, die zu nichts Geringerem als der condition humaine vorstößt.

Roman oder Autobiografie?

Ist „Orkus“ Roman oder Autobiografie? Die bei Roth auch sonst fällige Frage, die aus der Rat- und Hilflosigkeit der Gattungszuschreibung entspringt, wird durch die Sache selbst hervorgerufen. Auf Anhieb scheint dieses Zyklusfinale die Fortschreibung von Roths Geschichte seiner steiermärkischen Kindheit und Jugend in „Das Alphabet der Zeit“ von 2007 zu sein. Die aber ist es nicht, es geht nach innen, nicht nach außen, es führt in den Kopf des Künstlers, in die Landschaft seiner Erinnerungen, seine geistige Existenz, in der das Tatsächliche und das Imaginäre ineinanderlaufen.

Während aber der traditionelle Roman Realität in Fiktion transformiert, geht Roth den umgekehrten Weg. Viele Gestalten seiner vorangegangenen Romane kehren in „Orkus“ als quasi-reale Gestalten wieder, werden zu Gesprächspartnern des Erzähler-Ichs. Sie alle werden in einen Begegnungszusammenhang montiert, in dem historische Figuren vorkommen, die ihrerseits ins Halbfiktionale rutschen: so etwa der rechtsradikale Bastler Franz Fuchs, der seinerzeit mit Briefbomben österreichische Prominente terrorisierte.

Die nicht aufgearbeitete NS-Geschichte

Als an Foucault gemahnender Zentralgedanke durchzieht das Buch – in seinen zahlreichen Anstaltsgeschichten und Biografien „irrer“ Künstler – die realitätsaufschließende, deutende Kraft des vermeintlichen Wahns, an die die platte Alltagsrationalität der sich selbst Vernünftigkeit Bescheinigenden nicht heranreicht. Der von den „anderen“ als solcher bezeichnete Irrsinn wird vor allem zum Protest gegen den allgemein akzeptierten Irrsinn einer Gesellschaft, die ihre eigenen Pathologien und zumal die unaufgearbeitete NS-Geschichte Österreichs – die Lebenslüge der zweiten Republik – nicht wahrhaben will.

Die Anti-Österreich-Tirade Thomas Bernhards in einem Café passt in diesen Kontext genauso wie des Erzählers Bekanntschaft mit dem Nazijäger Simon Wiesenthal und – als bedrückend-alpraumhaftes Kernstück des Ganzen – ein Besuch im ehemaligen KZ Mauthausen. An diesem Kernstück in der Mitte des Buches, diesem grauenhaften und mit Hilfe eines informierten Lagerführers in Einzelheiten quälend genau ausgepinselten Exempel kommt Roths pessimistische Anthropologie ins Spiel: Der Nationalsozialismus öffnet der unauslotbaren Destruktivität der menschlichen Natur lediglich die Schleusen.

Ein Verwandter Thomas Bernhards

Der Name Thomas Bernhard fiel – mit ihm hat Roth tatsächlich vieles gemein, nicht zuletzt auch sein Avancement zum Bürgerschreck der österreichischen Rechten. Mit „Der See“, dem „Orkus“-Auftaktroman , sorgte er 1995 für Aufregung in den Reihen der FPÖ, die in einem populistischen Politiker, auf den beinahe ein Attentat verübt wird, ihren damaligen Parteichef Jörg Haider wiedererkannte.

Und wie Bernhard tat die politische Kritik dem Ruhm keinen Abbruch: 2016 erhielt Roth, der zuletzt den Venedig-Roman „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ verfasste, den Österreichischen Staatspreis – die dickste in einer Perlenkette zahlreicher Ehrungen. Das getadelte Gemeinwesen erwies sich als adaptionsfähig.