Streit der WocheMüssten Lehrer sich in den Sommerferien weiterbilden?

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Digitaler Unterricht

Digitaler Unterricht mit einem interaktiven „Touch Display“ in einer Grundschule.

  • Die Schulschließungen wegen des Coronavirus haben deutlich gemacht: Das Schulsystem hat dringenden Digitalisierungsbedarf.
  • Zeit für ein paar Überstunden statt Sommerurlaub?
  • Ja, sagt Katharina Hensel, digitaler Unterricht biete viele neue Möglichkeiten und jeder muss sich in seinem Beruf fortbilden – wieso nicht auch Lehrer? Nein, sagt Jonah Lemm, Lehrern ihre Ferien zu nehmen sei unfair und zeuge von mangelnder Wertschätzung.

Pro: Als ich die Oberstufe besuchte, gab es in manchen Klassenräumen elektronische „White Boards“. Ich kann allerdings nicht sagen, was mit diesen interaktiven Tafeln alles möglich gewesen wäre, weil sie nie ein Lehrer benutzt hat. Es wusste schlicht keiner, wie sie funktionierten.

Die teuerste Technik nützt nichts, wenn Lehrer sie nicht bedienen können. Lehrer müssen sich dieses Wissen aneignen, sie müssen dazu motiviert sein, sich weiterzuentwickeln – zur Not eben auch in den Sommerferien.

Natürlich: An vielen Schulen fehlt auch die Ausrüstung. Laut einer Schulleiterumfrage des Verbands Bildung und Erziehung NRW von Anfang des Jahres verfügen nur drei Prozent der Schulen über mobile Endgeräte für alle Klassen. Das tut zu Corona-Zeiten besonders weh. Lernen auf Distanz ist ohne Tablet oder Laptop unmöglich. Zu viele Schüler werden abgehängt.

Dabei gäbe es so viele Möglichkeiten: Digitale Tabellen erstellen, anschauliche Lernvideos oder Experten über den Beamer zuschalten. Schulstoff kann hochwertiger visualisiert und erfahrbarer werden – geografische Karten in Erdkunde, Audio-Beiträge in Englisch, die Protokollierung der Chemie-Experimente per Video. Es können ein Quiz und interaktive Lernpfade erstellt und motivierende Lernspiele genutzt werden. Beim Unterricht in den eigenen vier Wänden kann digital auch Rückmeldung gegeben werden, was bei Arbeitsblättern per Post fehlt. Ein digitaler Klassenraum schafft eine attraktive und abwechslungsreiche Lernatmosphäre für die Schüler. Wieso die neuen Räume nicht nutzen?

„Jeder Büroangestellte muss sich immer wieder mit neuen Programmen beschäftigen“

Fortbildungen gehören in jedem Beruf dazu. Jeder Büroangestellte muss sich immer wieder mit neuen Programmen beschäftigen, in jedem Betrieb gibt es immer wieder neue Technik. Aber Lehrer vermitteln Lernstoff mit Arbeitsblättern, die sie gefühlt seit ihrem Referendariat jedes Jahr aufs Neue nutzen? Das ist schwer vermittelbar. Nicht nur, aber ganz besonders in der Krise. Wieso nicht einzelne Tage der Ferien darauf verwenden, sich technisch auf den neuesten Stand bringen zu lassen?

Klar, das ist spontan. Doch in dieser Krise muss jeder spontan reagieren. Viele Menschen haben mit Gehaltseinbußen zu kämpfen, andere mit Mehrarbeit. Es geht ja auch nicht um mehrere Wochen, auch die Lehrer haben sich ihren Urlaub verdient. Schließlich haben sich manche in den letzten Monaten kreative und auch digitale Konzepte überlegt und brauchen eine Auszeit.

Motivierte Lehrer mit digitalen Kompetenzen könnten die weniger digital affinen Kollegen unterstützen und gemeinsam einen Transformationsprozess gestalten. Da gehört an manchen Stellen sicher Mut dazu, sich auszuprobieren und sich als Lehrkraft neu zu erfinden.

„Ein erster Schritt muss gemacht werden“

Das neue Schuljahr wird anders sein. Auch wenn es im Präsenzunterricht starten soll, muss man jederzeit mit Schließungen rechnen, es werden Lehrer fehlen. Deshalb müssen die digitalen Medien integriert werden, um im Zweifel auch beim Lernen auf Distanz endlich einsetzbar zu sein.

Pädagogische Konzepte, Lehrer mit Medienkompetenz, aber auch eine gute Ausstattung sowie eine leistungsfähige Internetverbindung müssen für den digitalen Unterricht her. Nur mit einer Fortbildung ist es da nicht getan. Aber ein erster Schritt muss gemacht werden. Das ist jetzt noch wichtiger als jemals zuvor.

Katharina Hensel, 26, ist Volontärin. In ihrer Schulzeit war der Overheadprojektor das innovativste Medium. Und er wird immer noch genutzt. Sie fände es gut, wenn Lehrer sich in den Ferien Zeit nähmen, ihr digitales Wissen auf Vordermann zu bringen.

Contra: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Job. Das Coronavirus bricht aus. Sie dürfen nicht mehr zur Arbeit gehen, sondern müssen nun im Homeoffice bleiben. Sie geben sich größte Mühe, dass der Betrieb trotzdem irgendwie weiter läuft. Auch wenn die digitalen Strukturen, die es dafür bräuchte, kaum vorhanden sind. Aber nun gut, Sie finden kreative Wege, mit den Kollegen und Kunden zu kommunizieren, auch mit denen, die nicht einmal einen Laptop besitzen. Es funktioniert, irgendwie, ist aber zunächst eine große Anstrengung. Kurz vor Ihrem geplanten Sommerurlaub normalisiert sich der Alltag, wenn auch sehr langsam. Es waren harte Wochen. Sie freuen sich auf ein bisschen Ruhe.

Dann aber sagt Ihnen jemand, ätsch, doch nicht frei. Bevor Sie entspannen dürfen, müssen Sie sich jetzt erstmal fit machen, für die Zeit, in der Sie wieder arbeiten müssen. Ziemlich unfair.

Genau so allerdings erginge es doch den Lehrern, wenn nun gefordert wird, sie sollten sich in ihren Ferien lieber mal Wissen über iPads und Videokonferenzen drauf schaffen, als Zeit mit ihrer eigenen Familie verbringen zu dürfen.

„Lehrer sind nicht dafür da, Kinder zu betreuen“

Welche eigentliche Unterstellung hinter diesem Wunsch steht, ist offensichtlich: Als die Corona-Krise das öffentliche Leben in einen Halbschlaf versetzte und Eltern plötzlich ihre Kinder zu Hause bespaßen mussten, haben sich die Lehrer ein paar schöne Tage gemacht. Ist natürlich Unsinn.

Lehrer sind nicht dafür da, Kinder zu betreuen, weil die Eltern arbeiten müssen. Sie sind dafür da, zu gewährleisten, dass junge Menschen ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können.

Die Mehrzahl an Lehrkräften hat diese Verantwortung auch in der Corona-Zeit ernstgenommen und umgehend versucht, weiter ein Angebot an Materialien und Feedback für ihre Schüler aufrechtzuerhalten. Es lief, wie in allen Branchen zunächst: So gut es eben ging.

„Lehrern ihre Leistung während dieser Wochen absprechen zu wollen, zeugt von mangelnder Wertschätzung“

Deswegen aber den Lehrern ihre Leistung während dieser Wochen absprechen zu wollen, zeugt von mangelnder Wertschätzung. Denn einem zunächst mäßig wirkendem Ergebnis steht ein Riesenaufwand gegenüber, innerhalb von wenigen Tagen den ganzen Schulbetrieb ins Internet zu verlagern. Das wurde sicher auch nicht unbedingt einfacher gemacht durch das Verbot, mit seinen Schülern über den beliebten Kommunikationsweg WhatsApp Kontakt zu halten.

Stattdessen mussten sich beide Seiten die Nutzung neuer Programme selbst antrainieren. Ist doch klar, dass das nicht von Anfang an perfekt läuft. Denken Sie bitte zurück an den Moment, als Ihre Firma das letzte Mal eine neue Mailsoftware eingeführt hat.

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Hätte auch schon vorher alles passieren können, klar, wir hätten auch schon vor der Pandemie tonnenweise Masken auf Verdacht lagern können. Nicht vergessen: Die coronaunabhängige Digitalisierung der Schulen war als Ergänzung des Präsenzunterrichts gedacht. Nie als vollständiger Ersatz. Dann Schulöffnung. Hygienepläne schreiben, Hunderte Tische auseinanderrücken, irgendwo die letzten Flaschen Desinfektionsmittel organisieren. Alles wieder in nur wenigen Tagen zu erledigen. Alles wieder viel Arbeit.

Es wird nicht weniger werden. Wenn das Schuljahr wieder losgeht, werden fast alle Klassen im Lehrplan hinterherhängen. Das aufzuholen, wird anstrengend für die Schüler. Für die Lehrer aber auch. Gut, wenn sich vorher alle noch ein bisschen erholen.

Jonah Lemm, 23, Redakteur im Ressort NRW/Story, möchte auch ohne Corona nichteinen Tag lang Lehrer sein. Er scheitert regelmäßig schon daran, sich selbst die Welt zu erklären.  

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