Dirigent Hermann Max über die Alte-Musik-Szene„Deutschland hat gerade viel zu verlieren“

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Hermann Max

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Der Dirigent Hermann Max gibt nach 31 Jahren die künstlerische Leitung des Festivals für Alte Musik im Kloster Knechtsteden ab, das er zu internationaler Bekanntheit geführt hat.

Herr Max, nach 31 Jahren geben Sie die künstlerische Leitung des Festivals für Alte Musik in Knechtsteden ab – am Samstag dirigieren Sie in der Klosterbasilika Ihr letztes Konzert. Eine Ära geht zu Ende.

Ja, es ist eine Zäsur. Dabei ist mein Wunsch, aufzuhören, nicht erst gestern entstanden, sondern schon während der vergangenen zwei Jahre. Es ist der richtige Zeitpunkt: Ich bin jetzt 82, da ist es gut, wenn mal ein neuer Wind weht. Man muss auch mal andere, jüngere Leute ranlassen – mit neuen Ideen. Ich selbst bin da übrigens ganz entspannt, höre mit einer gewissen Heiterkeit auf. Ich denke an viele schöne Erlebnisse zurück, mit Menschen und mit Musik, freue mich jetzt aber auf die Freiheiten, die ich haben werde.

Werden Sie die kommenden Jahre nutzen, oder ziehen Sie sich völlig vom Metier zurück?

Nein, nein, ich überlege schon intensiv, was ich machen kann. Darüber kann ich noch nichts Genaues sagen, aber ich werde keinesfalls die Hände in den Schoß legen.

Es gibt in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts viele verborgene Wirklichkeiten zu entdecken
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Als Sie 1992 in Knechtsteden anfingen: Wo standen Sie seinerzeit, und wo stand die Alte Musik? Und was hat sich in 30 Jahren geändert?

Das war eine gute Zeit damals, in der viele Musiker gute Informationen über die Wiedergabe dieser Musik hatten. Die mussten sie sich selbstredend erarbeiten – im Unterschied zu Bach und seinen Zeitgenossen, denen die Aufführungsregeln selbstverständlich waren. Die Historische Aufführungspraxis hat dann versucht, an diesen Wissensstand anzuschließen, das entsprechende Potenzial zu reaktivieren. Das ist dann allerdings nicht so richtig gelungen. Im Lauf der Zeit hat sich ein moderneres, „cooleres“ Musikmachen etabliert, wo auch etliches verschüttet wurde. Es gibt in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts viele verborgene Wirklichkeiten zu entdecken – Bilder in der Musik oder was bestimmte Notationen wollen. Diese Dinge sind in den 30 Jahren vor allem bei jungen Musikern verlorengegangen. Und für mich ist es immer schwieriger geworden, das weiterzugeben.

Sie machen den Späteren richtig Mut…

Nein, ich klage niemanden an, und schon gar nicht die jungen Musiker, die heute die theoretischen Quellen nicht mehr so lesen können, wie ich das seinerzeit konnte. Die haben heute ganz andere Sorgen, müssen sehen, dass sie irgendwo Konzerte machen. Die haben oft genug gar keine Zeit mehr, viel zu lesen und Informationen aufzusaugen. Ich finde das aber nicht weiter schlimm. Alle 50 Jahre ändert sich halt die musikalische Wiedergabepraxis, und auch das Publikum erwartet dann bestimmte Dinge. Das ist eine große, unübersichtliche Gemengelage – aus der ich mich zurückziehen möchte.

Wie hat sich im Lauf der Jahre Ihre eigene Agenda entwickelt? Auch sie sind ja, vom Barock ausgehend, mit Ihren Ensembles Rheinische Kantorei und Kleines Konzert bis ins 19. Jahrhundert vorgestoßen.

Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, dass ich, bevor ich 1967 als Kirchenmusikdirektor meine Stelle an der Dormagener Christuskirche antrat, viel neue Musik gemacht habe. Ich bin eigentlich in aller Musik zuhause. Und wenn Sie mal unsere Programme durchstöbern, werden Sie feststellen, dass da viel Neue Musik gemacht wurde. Im vergangenen Jahr habe ich noch Kompositionsaufträge an Kompositionsstudenten aus NRW vergeben. Die mussten Texte vertonen, die ich ihnen gab, und die neuen haben wir dann neben alte Kompositionen auf dieselben Texte gestellt. Das kam übrigens sehr gut an. Und es war ja auch tatsächlich eine sehr verständliche und klanglich interessante neue Musik. Also, was die Epochen betrifft, so gehen wir in alle Richtungen.

Köln war ja ein gutes Pflaster für das ganze Metier – da ist viel Schönes entstanden, in Aufführungen wie in Aufnahmen.
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Unbestritten, aber wenn man sich etwa Ihre Oratorienaufführungen ansieht, dann zeigen sich doch Schwerpunkte. Und es zeigt sich die allmähliche Ausweitung des Repertoires vom 17. und 18. hin zum fortgeschrittenen 19. Jahrhundert – freilich nicht bis hin zu Schönberg.

Ich habe ja immer schon versucht, anspruchsvolle ältere Werke auszugraben. Auf das 19. Jahrhundert bin ich dann aufmerksam geworden, als ich etwa die Sinfonien von Ferdinand Ries hörte. Tolle Musik, wie ich fand. Und da wollte ich einfach wissen: Was hat der für Vokalmusik geschrieben? Da haben wir dann „Die Könige in Israel“ und „Der Sieg des Glaubens“ gemacht. Und alle Mitwirkenden waren begeistert, als wir mit den Proben begannen. Solche Fälle hat es öfter gegeben. Ich habe das immer sehr genossen.

Wie gelang es über die Jahre, das künstlerische Biotop Knechtsteden als „Marke“ zu situieren – und daran eine unleugbare Erfolgsgeschichte zu knüpfen?

Als ich angefangen habe, beim WDR unbekannte Musik aufzunehmen, kamen wir auf die Idee, die auch mal in Konzerten zu präsentieren. Das haben wir dann in Dormagen gemacht – und das Interesse war sehr schlecht. Das hing auch am Umfeld; Dormagen heißt eben: Bayer – und nicht: Musik. Dann kamen wir auf die Idee, die einzige schöne Räumlichkeit am Ort zu nutzen, das Kloster Knechtsteden eben. Ich habe gesagt: Da machen wir jetzt einfach mal eine Reihe. Nun ja, Sie wissen ja selbst, wo wir heute stehen.

Trotz Knechtsteden gelten Sie als Angehöriger der Kölner Alte-Musik-Szene…

Ja, zu Recht, meine Verbindung zu den entsprechenden Institutionen war immer sehr eng. Köln war ja ein gutes Pflaster für das ganze Metier – da ist viel Schönes entstanden, in Aufführungen wie in Aufnahmen.

Wie steht die Szene heute da – und wie sieht ihre Zukunft aus, auch die Ihres Festivals?

Man muss wahrscheinlich sehr viel tun. Ich hörte neulich im Deutschlandfunk eine Sendung mit einer Diskussion darüber, ob es in 30 oder 50 Jahren so etwas wie eine Alte-Musik-Szene noch geben wird. Das sind berechtigte und bedrohliche Fragen. Und da hat gerade Deutschland viel zu verlieren. Eine Chorszene wie die hiesige – die gibt es in Frankreich und Italien nicht.

Sie dirigieren in Ihrem Abschlusskonzert am Samstag frühe Bach-Kantaten – vor Leipzig. Back tot he roots?

Also mit mir persönlich hat das nichts zu tun. Es geht um Bach, um den frühen Bach, der mit seiner Musik die Zeitgenossen konsterniert und verwirrt hat. Wir sind diese Klangsprache gewohnt, aber die damaligen Hörer fielen aus allen Wolken. Wie später dann das Premierenpublikum von „Sacre du printemps“. Bach war mal ein ganz „Neuer“, und das möchte ich im Konzert auch irgendwie vermitteln.

Haben Sie Ratschläge für Ihre Nachfolger?

Nein, solche zu geben ist nicht meine Art. Ich ziehe mich zurück, und die sollen alle Freiheiten haben, aus dem Festival etwas Schönes und Fantasievolles zu machen.


Seit 1992 hat Gründer und Intendant Hermann Max (1941 in Goslar geboren) das Festival für Alte Musik im Kloster Knechtsteden mit einer Vielzahl musikalischer Raritäten und dank zahlloser CD-Einspielungen und der Verbreitung über die Partner WDR und Deutschlandfunk zu internationaler Bekanntheit in der Originalklang-Fangemeinde geführt. Die Kontinuität des Festivals ist gewährleistet durch Festivalleiter Michael Rathmann. Die Rheinische Kantorei wird unter der Leitung von Edzard Burchards weiterhin stark präsent sein, außerdem werden jährlich wechselnde Residenzkünstler eingeladen. Artist in Residence 2024 ist die Kölner Blockflötistin Dorothee Oberlinger. (MaS)

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