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„Ein Überlebender aus Warschau“Inszenierung aus dem Geist der Gängelei

Lesezeit 3 Minuten
Andrés Orozco-Estrada steht vor der Philharmonie Köln.

Andrés Orozco-Estrada vor der Philharmonie Köln

Andres Orozco-Estrada und das Kölner Gürzenich-Orchester gaben Schönberg und Schostakowitsch eine allzu manipulative Deutung. 

Arnold Schönbergs „A Survivor from Warsaw“ („Ein Überlebender aus Warschau“) für Sprecher, Männerchor und Orchester zählt zu den eindringlichsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Shoah. Das 1947 im amerikanischen Exil komponierte Stück schildert in knapp acht Minuten den Abtransport einer Gefangenengruppe aus dem Warschauer Ghetto in die Vernichtungslager. In den englischsprachigen, vom Orchester untermalten Bericht des „Überlebenden“ mischen sich die gellenden Zwischenrufe des deutschen Offiziers, der die Gefangenen zum Abzählen auffordert. Am Ende vereinen sich ihre Stimmen im „Schma Jisrael“, dem alten jüdischen Glaubensbekenntnis, das vom Männcherchor angestimmt wird.

„Über Leben“ hieß das hintersinnige Motto des Gürzenich-Sonderkonzerts, bei dem Schönbergs Komposition in der Philharmonie erklang. Das Gürzenich-Orchester wurde durch die Männerstimmen des Kölner Opernchores unterstützt. Den Sprecher-Part übernahm Dominique Horwitz, den man aufgrund seiner nachlässigen Artikulation, aber auch wegen der unzureichenden Verstärkung leider kaum verstehen konnte. Auch der Männerchor kam eher phonstark als konturenscharf über die Rampe. Immerhin gelang es dem Gürzenich-Orchester unter Leitung seines designierten neuen Chefs Andres Orozco-Estrada, jene Deutlichkeit der musikalischen Artikulation zu leisten, die das menschlich Unfassbare in eine überzeugende künstlerische Form fasst.

Orozco-Estrada machte seine Position zu dem viel diskutierten Stück unmissverständlich deutlich

Das pausenlose, 70 Minuten dauernde Konzert folgte einer dramaturgischen Konzeption, die beim Publikum sehr gut ankam und offenbar eine starke emotionale Wirkung hatte. Man kann das anerkennen und dennoch Bedenken gegen den gängelnden Geist dieser Musik-Inszenierung haben, die im abgedunkelten Saal eine Atmosphäre der Betroffenheit und Trauer verbreitete (oder verordnete).

Besonders stark beeinflusste dieses Setting die Aufführung von Dmitri Schostakowitschs fünfter Sinfonie. Das 1937 in einer Zeit übelster stalinistischer Repressionen entstandene Werk ist immer wieder als Dokument einer geschickt verpackten Systemkritik gedeutet worden. Dieser Auffassung entsprachen auch die Texte aus Julian Barnes’ Roman-Biographie „The Noise of Time“, die Dominique Horwitz zwischen den Sätzen verlas.

Aber ist das alles wirklich so eindeutig? Schlägt die nicht enden wollende heroisch-martialische D-Dur-Coda des Finalsatzes tatsächlich irgendwann ins Negative um? Und folgte der Publikumsjubel nach diesem blechgepanzerten Triumphschluss einem kritisch-mitleidenden Impuls oder nicht doch eher der schlichten Freude am geballten Einsatz von Trompeten und dicker Trumm?

Andres Orozco-Estrada machte seine Position zu dem viel diskutierten Stück unmissverständlich deutlich: Die Sinfonie kroch in bleiernen, gequälten Tempi dahin, mit einem immer wieder bis an die Grenze der Hörbarkeit heruntergedimmten Streicher-Pianissimo. Das Gürzenich-Orchester setzte diese extreme Auffassung mit hoher spieltechnischer Kompetenz um; ob sie der Partitur gerecht wurde, deren innerer Zusammenhalt einem unablässigen Stresstest unterzogen war, wäre eine andere Frage.

Wie man Musik interpretiert, ist letztlich eine Sache der künstlerischen Freiheit. Das Publikum hat aber ebenfalls einen Anspruch auf (wenn nicht gar eine Pflicht zur) Freiheit; man sollte seine Rezeptionskanäle nicht mit vorgeformten Deutungen verstopfen. Gerade Stücke, deren Gehalt und Aussage umstritten sind, müssen im vollen Saallicht und ohne ideologische Beifütterung präsentiert werden, sonst macht man sich mit denen gemein, die Haltungen und Gedanken manipulieren wollen.