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Berliner Philharmonier in KölnImmer weiter, höher, schneller, bis zur Raserei

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Berliner Philharmoniker in der Philharmonie

Berliner Philharmoniker in der Philharmonie

In der ausverkauften Philharmonie begeisterte das Orchester unter seinem Dirigenten Kirill Petrenko mit Mahlers Neunter.

Der Saal war seit Wochen ausverkauft, und noch kurz vor dem Konzert umlagerten Scharen Kartenhungriger die Philharmonie. Was die Klassik betrifft, war das Gastspiel der Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko im Mai unangefochten das „hottest ticket in town“. Das wäre es wohl mit jedem erdenklichen Programm gewesen - mehr noch aber mit der neunten Sinfonie von Gustav Mahler, die von je her eine ganz besondere Aura umgibt: Sie gilt als der Schwanengesang der deutsch-österreichischen Romantik, ein Werk, das (wie es heißt) von Abschied, Zerfall und Untergang erzählt, in dem die Theoretiker der Moderne aber zugleich eine Art Gründungsurkunde der Neuen Musik entdecken wollten.

Die 1909 vollendete Sinfonie hat an ihrer Rezeptions-Bürde schwer zu tragen. Denn zuallererst ist sie ein Stück reiner, absoluter Musik, das in seiner aufwendigen Konstruktion erst einmal verständlich und transparent gemacht werden muss. Das war offenkundig auch der Ansatz, den Kirill Petrenko gewählt hat. Der russisch-österreichische Dirigent ist kein Missionar der Subjektivität, der seelischen Entäußerung - und noch weniger ein machtbewusster Veranstalter orchestraler Klangorgien.

Was Petrenkos Darstellung vor allem umgab, war der Ausdruck von Freiheit. Alles was geschah, jede Streicher-Linie, jede Breitseite im Blech, jedes in transzendente Höhen entführende Flötensolo atmete diesen Geist. Petrenko fordert nicht, er lädt ein, er öffnet Entfaltungsräume. Zugleich sind seine Gestaltungskraft und die Wärme seiner Persönlichkeit so stark, dass kein Musiker sich ihnen entziehen kann - so bekommt er auf ideale Weise, was er will.

Petrenko fordert nicht, er lädt ein, er öffnet Entfaltungsräume

Petrenko verschmäht nicht die weichen Portamenti und genussvoll gedehnten Auftakte, jenes wienerische Erbe, das Mahlers Werk bis in die Nervenenden durchzieht. Aber bei ihm ist dies die natürliche Idiomatik der Musik, ihr spezifischer Schönheitssinn, kein Ausdruck psychischer Komplexe.

Es fehlte der Aufführung keineswegs an Emotion, aber diese Emotion staute sich nicht, sie lag offen, sie floss ab. Und öffnend, befreiend wirkte natürlich auch die enorme Bravour, mit der die Berliner Philharmoniker die Partitur umsetzten. Davon zeugte vor allem die zu äußerster Entfesselung gesteigerte Schlussstrecke der Rondo-Burleske: Da ging es, ohne jeden Kontrollverlust, immer weiter, höher, schneller, bis zur Raserei. Dass sich danach (ungewöhnlich genug) keine Hand zum vorschnellen Applaus regte, spricht für die Disziplin des Publikums, aber natürlich auch für die zwingende Geschlossenheit der Interpretation: Es war schon klar, dass da noch etwas kommen musste.

Was kam, war das finale Adagio, das hier vor allem durch den sublimen Wandel der Klangfokussierung bestach: Das weihevolle Hauptthema ließen die Berliner üppig vibrieren, wobei sie jederzeit seine noble, stolze Haltung bewahrten. Aber gleich danach kam jene Stelle, in der Mahler den Klangraum radikal ausleert, wo zwischen Diskant und Bass plötzlich ein beklemmendes Nichts gähnt - da verdichtete, verzwirnte sich der Streicherton zu einer kaum erträglichen Hochspannung.

Völlig jenseitig war die Wirkung der letzten Takte, in denen sich die Musik in einzelne Gesten und einsame Linien auflöst. „Ersterbend“ schreibt Mahler über den Schlussakkord. Aber dieses Ersterben war kein Zerbröseln, sondern ein unmerklich gleitendes, sanftes Verschwinden, bis an einen Punkt, an dem nicht klar war, ob man den Klang noch hörte oder schon erinnerte. Dass der Maestro die Stille danach mit gehobener Hand sicherte, war verständlich, vielleicht aber gar nicht nötig: Wer im Saal hätte die Bannwirkung dieses Schlussklangs nicht empfunden?