Filmfestspiele von VenedigDas sind die Gewinner 2022

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Venedig – „All die Schönheit und das Blutvergießen“ hat die US-amerikanische Regisseurin Laura Poitras ihren Dokumentarfilm genannt, der jetzt die 79. Festivalausgabe in Venedig gewonnen hat - und meint damit keineswegs den Stoff aus dem üblicherweise großes Kino gemacht wird. Der Titel ist nicht metaphorisch zu verstehen, sondern bitterernst: Schönheit und Tod gehen Hand in Hand im Wirken der Pharmaproduzenten-Familie Sackler. 

Seit Generationen unterstützt sie große Kunstmuseen, ganze Gebäudeflügel tragen ihren Namen. Hinter dem Mäzenatentum stehen freilich beschämende Geschäftspraktiken: Durch die aggressive Vermarktung des suchtgefährdenden Schmerzmittels Oxycodon nahm ihr Purdue-Konzern den Tod hunderttausender Konsumenten in Kauf.

Laura Poitras künstlerischer Dokumentarfilm ausgezeichnet

Die Fotokünstlerin Nan Goldin, die der Film in ihrer erfolgreichen aktionistischen Kampagne gegen die Sacklers porträtiert, war mehrere Jahre selbst abhängig. Anders als die Protagonisten von Poitras früheren politischen Dokumentarfilmen, Julian Assange und Edward Snowden, muss Goldin wenigstens nicht fürchten, für ihren Heldinnenmut bestraft zu werden. Ihr politischer Erfolg überträgt sich – trotz allen Leids, von dem dieser Film erzählt – in motivierender Weise auf das Publikum. Seine künstlerische Qualität offenbart dieser formal unauffällige Dokumentarfilm dabei auf den zweiten Blick – in einer Montage, die Kunst und Politik bruchlos in einem erzählt. Politische und künstlerische Ethik sind für Poitras nicht zu trennen – was die Doppelmoral der Sacklers im Gegensatz dazu noch gespenstischer erscheinen lässt.

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Schon 1998, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs im Kunstbetrieb, erklärte uns Goldin im Interview: „Ich glaubte wirklich, bis zum Jahr 1989, dass es in der Kunstwelt um Kunst gehe. Dann erst erkannte ich, dass es nur um Geld geht. Das war wie ein Höllentrip für mich. Dieser Augenblick war ganz furchtbar für mich. Heute noch verkaufe ich bei jeder Ausstellung ein Bild ganz billig, damit die Differenz an eine Aids-Klinik gehen kann oder eine New Yorker High School für schwule und lesbische Jugendliche, wo ich manchmal unterrichte. 500 Bilder im Jahr lasse ich für die Aids-Stiftung versteigern. Nein, ich glaube nicht, dass ich mich an den Kunstmarkt verkauft habe.“

Filmfestspiele in Venedig ehrt vor allem politische Filme

Wenn Julianne Moores Festivaljury den einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb jetzt mit einem der wichtigsten Preise für Filmkunst auf der Welt geehrt hat, dann hatte sie dafür ebenso sehr künstlerische wie politische Gründe. Wie sie auch unter den übrigen Teilnehmern besonders die politische Kunst belohnte. Der französische Beitrag „Saint Omer“, nun mit der zweitwichtigsten Auszeichnung, dem „großen Jurypreis“, geehrt, ist der erste Spielfilm der Dokumentfilmerin Alice Diop.

Weitgehend als Gerichtsfilm inszeniert, behandelt das Drama den in Frankreich als „Kabou-Affäre“ bekannten Fall einer ehemaligen Philosophie-Studentin, die ihr Baby im Meer ertrinken ließ. Dipp, die 2017 das Verfahren selbst verfolgte, zitiert in der strengen, semi-dokumentarischen Form des Films Werke von Marguerite Duras und Pier Paolo Pasolini. Indem sie die autobiografische Rolle der Beobachterin als distanzierendes Element einfügt, gelingt ihr ein konsequenter Bruch mit den Konventionen des Gerichtsdramas.

Inhaftierter iranischer Regisseur Jafar Panahi gewinnt Spezialpreis

Ein Preis für den inhaftierten iranischen Regisseur Jafar Panahi war erwartet worden. Seine ebenso komplexe wie leichthändige Reflexion über die Rolle eines Regisseurs in einer zwischen Diktatur und falscher Tradition gelähmten Gesellschaft, „No Bears“, erhielt nun den „Spezialpreis der Jury“. Und auch Todd Fields umstrittene Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch im Kulturbetrieb, die bittere Satire „Tár“ wurde gewürdigt. Cate Blanchett ließ sich als „beste Hauptdarstellerin“ zurück an den Lido rufen und dankte als erstes ihrer Spielpartnerin, die das Ensemble angeführt habe, „Nina Hoss, die ich wirklich verehre.“

Auch wenn die Jury das strahlendste Juwel dieses guten Jahrgangs übersah – den japanischen Beitrag „Love Life“ von Koji Fukuda – zeigte sie durchweg Geschmack. Mit dem oft unterschätzten Colin Farrell würdigte sie einen Hauptdarsteller, ohne dessen feine Emotionalität die Geschichte einer tragischen Männerfreudschaft, „The Banshees of Inisherin“, wohl nur skurril geblieben wäre.

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Absolut berechtigt ist schließlich die hohe Wertschätzung, die ein radikaler Genre-Film erfuhr: Für „Bones and All“, eine Liebesgeschichte unter Kannibalen, erhielt der Italiener Luca Guadagnino den Regiepreis, der schillernd-präsente Jungstar Taylor Russell wurde mit dem Marcello-Mastroianni-Nachwuchspreis geehrt. Filme, die auf kunstvolle Weise Genrekonventionen weiterschreiben, sind selten und werden häufig übersehen. Es spricht für das Festival und seine Jury, dass Extreme gefunden und belohnt wurden – genau die braucht das Kino mehr denn je. Gerade bei der Überpräsenz von Netflix, das bei den Preisen leer ausging.

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