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Flucht ist keine Option

6 min

Liv Lisa Fries als Charlotte Ritter in der dritten Staffel „Babylon Berlin“

Manchmal passiert es, dass Liv Lisa Fries an seltsamen Orten plötzlich die Frage nach dem Sinn überkommt. Da sitzt sie im schwarzen Cocktailkleid bei der Gala des Europäischen Filmpreises in Berlin. Es ist die soundsovielte Trophäe für „Babylon Berlin“. Blitzlicht, roter Teppich, Lächeln, Bussi. Aber Fries sitzt da, erzählt sie, und kann einen Gedanken nicht mehr verscheuchen: „Braucht’s das alles?“ Liv Lisa Fries ist 29 Jahre alt. Sie ist die Hauptdarstellerin einer TV-Serie, die in 100 Ländern der Erde läuft. An diesem Freitag startet bei Sky die dritte Staffel. Fries ist die Frau der Stunde. Sie könnte sich feiern lassen.

„Aber darum geht es mir nicht“, sagt sie. Sie sitzt jetzt in einem Hotel am Kurfürstendamm. Und sie wundert sich, dass nicht Krankenpfleger Preise bekommen, sondern sie. „Schauspieler gilt als wahnsinnig anerkannter Beruf“, sagt sie. Sie spricht schnell, konzentriert, die Hände helfen. „Das finde ich irritierend. Es ist eine komische Verschiebung von Werten im Kapitalismus. Es gibt doch viel wichtigere Dinge.“

Das könnte kokett klingen. Kapitalismus. Wichtigere Dinge. Klare Sache: leichte Hybris, falsche Bescheidenheit, typisch Schauspieler. Aber es klingt nicht kokett. Es klingt nach einer Frau, die nicht einsieht, warum Entertainer die Leitfiguren unserer Zeit sein sollen. „Ich bin keine Politikerin“, sagt Fries. „Aber in unserer Gesellschaft ist es eben so, dass Menschen Schauspielern zuhören. Das finde ich nicht gut, aber so ist eben das System. Und damit habe ich auch ein Stück weit Verantwortung dafür, in der Notsituation, in der wir uns befinden, meine Stimme zu erheben.“

Notsituation. Ein strenges Wort. Sie benutzt es sehr bewusst. Fries wurde kurz nach der Wiedervereinigung geboren, am 31. Oktober 1990. Nicht Ruhm ist ihr wichtig, sondern Nachhaltigkeit. Nicht Prominenz, sondern Freiheit zur Kunst. Damit ist sie fast widerwillig zur Galionsfigur jener Millennials geworden, für die „Weiter so“ in allen Lebensbereichen keine Option ist. Sie geht auf „Fridays for Future“-Demonstrationen. Sie wirbt für veganes Leben. Für bessere Radwege. Man müsse „Wohlstand anders denken“. So hat es Fries in einem Gastbeitrag für den „Tagesspiegel“ formuliert. „Wir hatten einen unglaublichen Wohlstand“, schreibt sie. „Er ist vorbei. Er muss vorbei sein. Wir brauchen einen kompletten Systemwechsel.“ Sie weiß genau, dass das alles nach einer urbanen Hipsteridylle klingt, die nicht jeder leben kann. „Aber mir geht es nur darum, Mut zu machen.“

Am Set ist sie eine akribische Arbeiterin. Dass sie trotzdem so natürlich wirkt, ist hart erarbeitet. Sie sucht, sie probiert, hadert und zweifelt. Nachwuchsstar? Schon lange nicht mehr. Als Kind sah sie „Léon – Der Profi“ mit Jean Reno und Natalie Portman. Da war sie zehn oder elf. Ein Schlüsselerlebnis. Sie ging zum Tag der offenen Tür einer Schauspielschule, knüpfte Kontakte – und spielte ihre erste Rolle mit 16 Jahren gleich in Oskar Roehlers Kinofilm „Elementarteilchen“ von 2006. Die kurze Sequenz fiel der Schere zum Opfer. 2007 stand sie in „Tod in der Siedlung“ neben Götz George vor der Kamera. Der Durchbruch kam 2011 mit dem ARD-Drama „Sie hat es verdient“. Nebenbei machte sie Abitur. Ein Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft brach sie ab. Zu viele Jobangebote.

Sie spielte eine Mörderin, eine Mukoviszidose-Kranke, die Überlebende eines Amoklaufs, die Frau eines schwulen Mannes, Sophie Scholl, Lou Andreas-Salomé. Irgendwann ging es nicht mehr. „Ich war einfach erschöpft“, sagt sie. Pause. Zuletzt spielte sie in den Filmen „Rakete Perelman“ und „Prélude“. Mit der US-Serie „Counterpart“ hat sie erste Fühler nach Übersee ausgestreckt. Gerade hat sie „Hinterland“ abgedreht. Im Sommer beginnen die Dreharbeiten zu Detlev Bucks Thomas-Mann-Verfilmung „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“.

„Babylon Berlin“ soll nicht zur Falle werden. Sie sieht zwar aus wie frisch den 1920 Jahren entstiegen. Aber sie will sich nicht abonnieren lassen auf historische Stoffe. Dabei ist das dichte, pralle Sittengemälde in Wahrheit gar kein historischer Stoff. Die Parallelen zur Gegenwart sind offensichtlich: Eine konfuse Zeit voller zerbröselnder Gewissheiten, diffuse Ängste überall, bis der Ruf nach der Eisenfaust laut wird. Die neue alte „German Angst“ ist das Leitmotiv von „Babylon Berlin“. Wer die Macht über die Ängste hat, zieht die Fäden. Und die Jugend begehrt auf. Die Vergangenheit spiegelt die Gegenwart.

Und so, wie die Figur der jungen Berlinerin Charlotte Ritter die perfekte Repräsentantin der „alten 20er“ ist, steht ihre Darstellerin Liv Lisa Fries ein Jahrhundert später für die „neuen 20er“. Ritter ist das Kind einer Generation des wilden Exzesses, die vor den Zumutungen der Welt in Räusche floh. Fries ist ihre Schwester im Geiste, aber doch ihr Gegenteil: sehr bewusst lebend, suchend, ausprobierend. Flucht ist keine Option, Bessermachen schon.

Natürlich: Soziales Engagement gehört unter Prominenten zum guten Ton. Neu ist aber bei vielen Millennial-Stars, dass die Sorge um den Zustand der Welt kein sinnstiftender Zusatzbonus mehr ist, sondern integraler Bestandteil des Lebens selbst. Sie nutzen nicht soziales Engagement zur Mehrung ihres Ruhms, sondern ihren Ruhm als Werkzeug für die gute Sache. Die neuen Stars hadern mit der Oberflächlichkeit ihrer Branche, mit dem „Aufgeblähten und Euphorischen“. Bekanntheit sei eine tückische Sache. „Man muss darauf achten, dass man nicht zum passiven Objekt wird, sondern handelnde Person bleibt. Ich möchte mir meine Subjekthaftigkeit bewahren.“ Kurze Denkpause. „Gibt’s das Wort?“ Sie lacht. Jetzt gibt es das Wort. Dann muss sie los. Sich aufbrezeln lassen. Abends ist roter Teppich. Schon wieder.

Liv Lisa Fries über Berühmtheit

Die dritte Staffel

Es beginnt mit einer Sequenz wie aus einem Alptraum. Gereon Rath irrt durch die Berliner Börse, Papier flattert durch die Luft, Menschen erhängen oder erschießen sich. Der Börsencrash vom Oktober 1929 ist das globale Drama, auf das die dritte Staffel von „Babylon Berlin“ zusteuert.

Die Handlung setzt dann einige Wochen vorher ein. Kommissar Gereon Rath (Volker Bruch) muss in einem ungewöhnlichen Mordfall ermitteln. In den Studios von Babelsberg wurde die Hauptdarstellerin des expressionistischen Films „Dämonen der Leidenschaft“ von einem herabfallenden Scheinwerfer erschlagen. Unfall oder Mord? Rath erhält Unterstützung von Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries), die gegen die Borniertheit ihrer Kollegen bestehen muss und darum kämpft, Mordermittlerin zu werden. Im Verlauf der Staffel wird es dann immer politischer. Die Nazis sind auf dem Vormarsch, setzen politsche Gegner unter Druck, verbreiten Angst. Die rauschende Party der 20er Jahre scheint vorbei zu sein.

„Babylon Berlin“ ist immer freitags in Doppelfolgen um 20.15 Uhr auf Sky 1 HD sowie parallel auf Sky Ticket, Sky Go und über Sky Q zu sehen. Das Erste zeigt die neuen Episoden im Herbst dieses Jahres. (amb)