Gegensätze verbinden

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Seitdem mit dem Ende der Sowjetunion an die Stelle des Ost-West-Konflikts die Kriegserklärung eines islamistischen Gotteskriegertums an die westliche Zivilisation getreten ist, wird hierzulande gelegentlich beschwörend daran erinnert, bereits Goethe habe doch im „West-östlichen Divan“ festgestellt: „Orient und Okzident/sind nicht mehr zu trennen.“ Mit seinen vor 200 Jahren erschienenen „Divan“-Gedichten und ganz ausdrücklich mit diesen beiden Versen aus dem Nachlass des Gedichtzyklus hat Goethe eine unwiderrufliche Verbindung zwischen Orient und Okzident statuiert. Dass Kulturen, obwohl durch mehr oder weniger große Unterschiede voneinander getrennt, zugleich miteinander verbunden seien, beruht auf einem humanistischen Denken, das „dialektisch“ ist als Denken über die „Einheit von Gegensätzen“, über ihre „Polarität“.

Einem weit verbreiteten Verständnis und Sprachgebrauch zufolge hat „Polarisieren“ die Bedeutung von „Entzweien“: Wenn von einem Politiker gesagt wird, er polarisiere, ist damit gemeint, dass er Gegensätze auf die Spitze treibe, bis sich an ihm die Geister scheiden. Nach Goethes Vorstellung verhält es sich so, dass Gegensätze durch ihre Polarisierung, also dadurch, dass sie zueinander in ein Verhältnis von Pol und Gegenpol treten, als miteinander verbunden zur Erscheinung kommen. Es ist die Vorstellung von einer Vereinbarkeit von Einheit und Mannigfaltigkeit, die Goethes „Divan“ zugrunde liegt. Der Orient des Gedichtzyklus wird dort dem Okzident weder als „das ganz Andere“ gegenübergestellt, noch ist die Einheit, die er mit diesem bildet, die einer wesenhaft ganzheitlichen Welt und Menschheit.

Was nun das „Freundschaftliche“ in Goethes Wahrnehmung des Orients angeht, so trifft das in einem ganz wörtlichen Sinne auf die Art und Weise zu, wie Goethe im „Divan“ sein Verhältnis zu dem persischen Dichter Hafis darstellt. Zugang zur Poesie des Orients hat Goethe dadurch gefunden, dass er zu diesem Dichter des 14. Jahrhunderts eine Art Wahlverwandtschaft verspürte. Mit religiösen und kulturellen Hintergründen und sozialhistorischen Kontexten orientalischer Poesie hat er sich beschäftigen wollen, als sie ihm in seinen Gedichten als Ausdruck einer ihm vertrauten Lebensführung entgegentrat.

Der Autor Leo Kreutzer

Der Autor Leo Kreutzer

Dass Goethes „West-östlichem Divan“ ein Denken zugrunde liegt, dem zufolge Gegensätze miteinander polar verbunden sind, macht den Humanismus des Gedichtzyklus zu einem dialektischen. Es macht diesen zum herausragenden Dokument eines „Dialektischen Humanismus“, dem es nicht um das „Wesen“ des Menschen geht und der schon gar nicht unterstellt, der Mensch an sich sei edel, hilfreich und gut. Goethes Dialektischer Humanismus ist kulturphilosophisch begründet, es handelt sich bei ihm um eine Theorie einer modern interkulturellen Dynamik, einer aufgrund der Vielfalt von Kulturen konfliktgeladenen Dynamik. In seinen letzten Jahren beginnt Goethe mit dem Begriff einer „Weltliteratur“ zu experimentieren. Mit dem weit verbreiteten Verständnis von Weltliteratur als einer Art ewiger Weltbestenliste literarischer Meisterwerke haben seine Vorstellungen auch in diesem Fall nichts zu tun. In Briefen und Gelegenheitsarbeiten entwirft er Weltliteratur als „Einheit durch Mannigfaltigkeit“. Weltliterarische Schreiberfahrungen hatte er bereits mit seinem „Divan“-Projekt gemacht. Und nachdem er im Januar 1827 in einem Brief an den Dante-Übersetzer Karl Streckfuß zum ersten Mal bekundet hatte, er sei „überzeugt, daß eine Weltliteratur sich bilde“, notiert er im April 1830: „daraus kann endlich die allgemeine Weltliteratur entspringen, daß die Nationen die Verhältnisse aller gegen alle kennen lernen, und so wird es nicht fehlen, daß jede in der andern etwas Annehmliches und etwas Widerwärtiges, etwas Nachahmenswertes und etwas zu Meidendes antreffen wird.“

Mit seinen Vorstellungen von einer künftigen Weltliteratur knüpft Goethe an die Art und Weise an, die Jahrzehnte zuvor Herder dargelegt hatte: durch die Polarisierung von Gegensätzen trennten sich „das Freundschaftliche und das Feindschaftliche“ voneinander. Damit gibt Goethe zu verstehen: Im Zuge der Entstehung einer Weltliteratur werde es insofern polarisierende Effekte geben, als es dabei zu widersprüchlichen Reaktionen von „Anziehung und Abstoßung“ kommen werde. Damit entspricht Goethes Vorstellung von Weltliteratur dem, was ich als Dialektischen Humanismus beschrieben habe. Von ihm habe ich gelernt, kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich gegenüber einer umstandslosen Willkommenskultur etwas reserviert bin.

Er hat mich für die Art und Weise sensibilisiert, wie Begegnungen mit einem kulturellen oder religiösen Anderssein in einem anderen als dem landläufigen Verständnis polarisierend wirken. Sie wirken polarisierend in dem Sinne, dass sie, wie Goethe formuliert, dabei auf „etwas Widerwärtiges und zu Meidendes“ treffen, aber auch auf „etwas Annehmbares und Nachahmenswertes“. Der deutsch-syrische Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani, Koordinator der Integrationspolitik der nordrhein-westfälischen Landesregierung, spricht in diesem Zusammenhang mit dem Titel eines 2018 erschienenen Buches von einem „Integrationsparadox“. Darunter versteht er, dass „gelungene Integration zu mehr Konflikten“ führe. In einem im Januar 2019 im „Kölner Stadt-Anzeiger“ veröffentlichten Interview hat El-Mafaalani das so erläutert: „Es war immer falsch zu glauben, dass eine fortschreitende Integration von Migranten zu einer harmonischen Gesellschaft führt. Im Gegenteil: Wenn Integration gelingt, müssen sich gleichzeitig die Konflikte verschärfen.“ Denn wir müssten, so El-Mafaalani, „aushandeln, wie die Kontroversen ausgetragen werden, anstatt darüber zu klagen, dass es sie gibt“. Das ist ganz im Sinne des Dialektischen Humanismus von Herder und Goethe.

Eines aber geht weder mit dem Dialektischen Humanismus von Goethes „West-östlichem Divan“ noch mit El-Mafaalanis „Integrationsparadox“. Es geht gar nicht, dass in einer andersartigen religiösen Bindung, in einer andersartigen kulturellen Prägung allein das „Feindschaftliche“ gesehen wird, nur etwas „Widerwärtiges“ und „zu Meidendes“.

ZUR PERSON

Leo Kreutzer, 1938 in Düren geboren, lebt in Köln. Er studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie in Tübingen, Nancy und Köln. 1964 promovierte er an der Universität Tübingen. Von 1965 bis 1969 war er Assistent von Hans Mayer in Hannover, wo er sich 1969 für das Fach „Neuere deutsche Literatur“ habilitierte.

Anschließend arbeitete er über vier Jahre hinweg als Literaturredakteur beim WDR. 1974 folgte er Hans Mayer auf dem Lehrstuhl für „Neuere und Neueste deutsche Literatur“. 2015 erschien sein Buch „Dialektischer Humanismus. Herder und Goethe und die Kultur(en) der globalisierten Welt.“ In seinem Buch „Goethe in Afrika“ untersuchte er die interkulturelle Literaturwissenschaft der École de Hanovre in der afrikanischen Germanistik. 2006 verlieh ihm die Universität Cheikh Anta Diop in Dakar die Ehrendoktorwürde.

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