Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Genie, Griesgram und größter weißer Soulsänger aller ZeitenVan Morrison wird 70 Jahre alt

Lesezeit 4 Minuten

Van Morrison verlegte sich früh aufs Musikmachen.

Essen, Grugahalle, 4. April 1982, Van Morrison hat am Ende seines „Rockpalast“-Sets eine fantastische Version von „Summertime in England“ gespielt. Der Song gipfelt in eine der berühmtesten Fragen der Popgeschichte („Can you feel the silence?“), die Morrison an einem guten Abend solange wiederholt, bis jeder im Publikum gewillt ist, die Stille zu spüren und mit „Ja“ zu antworten. In Essen stoppt er seinen Vortrag plötzlich, und teilt den Zuschauern mürrisch mit: „Falls sich jemand fragt, was ich auf diesem Rock’n’Roll-Event verloren habe (Kunstpause) – das frage ich mich auch.“

Die sagenhaft schlechte Laune gehört zu George Ivan Morrison (Spitzname: „The Grumpy One“, der Griesgram) wie sein überbordendes musikalisches Genie. In einem raren Interview erklärte er jüngst dem „Time“-Magazine, welche aktuellen Bands er spannend findet: „Keine. Es war alles schon mal da.“ Seinen ersten Solohit „Brown Eyed Girl“, kloppt der Ire aber ebenso in die Tonne: „Für mich war das ein Wegwerfsong“, sagt Morrison und fügt wahrheitsgemäß hinzu: „Ich habe etwa 300 andere Songs, die besser sind.“

Musikalischer Alleinherrscher

Nach der Schule und einer kurzen Episode als Fensterputzer (daraus wurde später ein Song: „Cleaning Windows“) verlegte sich Morrison früh aufs Musikmachen, zunächst als Saxofonist in mehreren Showbands, dann in den Jahren 1964/65 als Sänger der ungeschliffenen Rhythm&Blues-Gruppe Them. Nach zwei Alben und einer Handvoll Hits (unter anderem „Here Comes The Night“) erkannte Morrison aber schnell, dass er wohl nur als musikalischer Alleinherrscher klarkommt.

Die ersten seiner „300 besseren Songs“ finden sich schon auf dem zweiten Soloalbum „Astral Weeks“ von 1968, dabei ist auch eine grundsätzliche Gebrauchsanweisung für Morrisons Musik: „Ich werde zufrieden sein, nicht mehr zwischen den Zeilen zu lesen“, singt er im Stück „Sweet Thing“ und das wünscht er sich auch von seinem Publikum. Die Zuhörer (ganz besonders die verhassten Journalisten) sollen ihm keine rationalen Erklärungen abnötigen für sein komplett aus der Intuition gespeistes Werk. Wiglaf Droste verglich den Sänger mit einem mittelalterlichen Mystiker, schrieb von der „Zwiesprache Morrisons mit seinem Gott, die manche Leute als Songs missverstehen“. Da ging es konkret um seine zu Tränen rührende Adaption des Irish-Folk-Klassikers „On Raglan Road“.

Van Morrison, der am Montag seinen 70. Geburtstag feiert, wurde in Belfast groß, im protestantischen Osten der Stadt, wo sein Vater George als Elektriker auf der Werft Harland&Wolff arbeitete, dem Bauplatz der legendären „Titanic“. Morrison senior war ein kultivierter, musikbegeisterter Mann mit gut sortierter Plattensammlung, so kam Van früh mit amerikanischen Soul-, Blues- und Country-Größen wie Solomon Burke, Ray Charles und Jimmie Rodgers in Berührung. Das ist gewissermaßen die Ursuppe des Van-Morrison-Sounds, der bis in die frühen 1990er-Jahre immer weiter mit keltischen Elementen angereichert wurde. Besonders die Alben zwischen „Into the Music“ (1979) und „No Guru No Method No Teacher“ (1986) sind beispielhaft für Morrisons vergrübelte, uferlose Sinnsuche. Der Sänger gerät in diesen Jahren auch in die Fänge der Scientology-Kirche, deren Gründer L. Ron Hubbard er 1983 das (ansonsten superbe) Album „Inarticulate Speech of the Heart“ widmet. Auf neueren Pressungen wurde diese Peinlichkeit vom Plattencover getilgt.

Erlösung mit Miss Ireland

Mittlerweile geht es Morrison deutlich besser, was zugleich den Tiefgang seiner Alben in den vergangenen 20 Jahren ein wenig gemindert hat. Der größte weiße Soul-Sänger aller Zeiten fand Erlösung in der Ehe mit der 16 Jahre jüngeren, ehemaligen Schönheitskönigin Michelle Rocca, der „Miss Ireland“ von 1980. Auf dem Cover des Albums „Days Like This“ sieht man die beiden zusammen beim Spaziergang mit zwei Windhunden, Morrison stoisch, mit angenagelter Sonnenbrille, obgleich es draußen schon dunkel ist. 1998 wurde der Titelsong ohne Morrisons Zutun, zum inoffiziellen Soundtrack des Karfreitags-Abkommens, das den unseligen Nordirland-Konflikt auf Eis legte.

Für sein Publikum sind die Shows nach wie vor so spannend wie ein Münzwurf: Kopf oder Zahl, gediegene Routine oder mystische Verzauberung? Alles eine Frage der Tagesform. Am 70. Geburtstag gibt es aber ganz sicher ein Heimspiel: In Ost-Belfast auf der Cyprus Avenue, jener Straße, die dank seines gleichnamigen Songs unsterblich geworden ist.