Neuer „Artist in Residence“Man darf das Gürzenich-Orchester beglückwünschen

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03.09.2023, Köln: Alexandre Kantorow ist der neue Artist in Residence beim Gürzenich-Orchester. Besuch seines ersten Konzerts.
 Foto: Uwe Weiser

03.09.2023, Köln: Alexandre Kantorow ist der neue Artist in Residence beim Gürzenich-Orchester. Besuch seines ersten Konzerts. Foto: Uwe Weiser

Der französische Pianist Alexandre Kantorow hatte seinen Einstand als Artist in Residence beim Gürzenich-Orchester. Das Kölner Publikum dürfte noch viel Freude an ihm haben.

Mit François-Xavier Roth nach Ungarn: Die kontrastive Zusammenstellung von Bartóks Tanz-Suite aus dem Jahre 1923, Liszts A-Dur-Klavierkonzert und Haydns 104. Sinfonie (der Klassiker verbrachte den größten Teil seines Berufslebens im damaligen Ungarn) für das erste Gürzenich-Abokonzert erwies wieder einmal den ausgeprägten Sinn des Dirigenten für eine ausgefeilte, in ihrer Bedeutsamkeit über sich selbst hinausweisende Programmation.

Noch spektakulärer war freilich der Einstand des französischen Pianisten Alexandre Kantorow als Artist in Residence der gerade gestarteten Saison. Das zweite Liszt-Konzert ist ja, mit seinen Akkordtrillern und Oktavgewittern, nichts für schwache Nerven und eine durchschnittliche Technik seitens des Spielers. Und von diesem wird trotz der manuellen Anforderungen keine mühsam-schwitzende Bewältigung verlangt, sondern ein souveränes Darüberstehen. Er muss allzeit den Eindruck vermitteln, noch viel Luft nach oben zu haben.

Das ist der neue Artist in Residence: Alexandre Kantorow

Bei dem 26-jährigen aus Clermont-Ferrand, der 2019 den ersten Preis und die Goldmedaille beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb gewann, ist dies alles in hohem, ja atemberaubendem Maß der Fall. Und dabei geht es beileibe nicht nur um Technik.

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Schließlich kann man diesen Liszt (der hier immerhin mit der „Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit“ ein interessantes Formmodell realisiert) seinen pianistischen Exzessen, seiner Trivialthematik und seinem auftrumpfenden Marsch-Pathos fehlerfrei spielen und trotzdem in den Sand setzen. Bei Kantorow besteht diese Gefahr nicht: Da beginnen Läufe und Arpeggien luzide zu atmen und zu leuchten, singen die Oktaven, ist alles Helligkeit, Klarheit und Eleganz, gibt es keine verschwurbelte Sentimentalität.

Man darf Roth und das Gürzenich-Orchester beglückwünschen

Kantorow, stets wach auf seine Partner im Orchester horchend, kommt auch bei großer Kraftentfaltung nicht wie ein Berserker herüber, und im ganz Leisen entfaltet sein Spiel einen poetischen Zauber, der aus der Musik selbst das Beste herausholt, was in ihr drinstecken mag. Das Gleiche gilt für die Zugabe, den „Sad Waltz“ des Ungarn (!) Ferenc Vecesey in der Bearbeitung von Georges Cziffra. Auch hier wurde die musikalische Substanz keinen Augenblick unter der wuchernden Klavierornamentik begraben.

Roth und das Gürzenich-Orchester dürfen sich schon jetzt zur Wahl dieses Artist in Residence beglückwünschen. Es wird interessant sein, den Künstler, der unter Dirigenten wie Barenboim, Petrenko und Pappano auftritt und schon jetzt zur Weltspitze seines Metiers gerechnet wird, mit anderem Repertoire zu erleben. Dazu wird 2023/24 Gelegenheit genug sein: Im Mai 2024 stellt er sich den Herausforderungen des fünften Klavierkonzerts von Saint-Saëns, und im Rahmen eines Kammerkonzerts mit Solisten des Gürzenich-Orchesters spielt er, im Juni kommenden Jahres, Brahms' Klavierquintett.

Eine bemerkenswert aggressive Haydn-Interpretation

Hatte die Bartók-Suite zu Beginn mit perkussivem Drive (neben schönen elegischen Melodien) dem Publikum etwaige Reste von Sonntagmorgenschlummer aus Augen und Ohren getrieben, so ging es nach der Pause spektakulär genug weiter. Haydns letzter Sinfonie ließ Roth eine bemerkenswert aggressive Interpretation zuteil werden – was auch, aber nicht nur auf das Konto der klanglich forcierten Pauken und Trompeten ging. Gleich die ersten Akkorde schienen in eine düstere „Don Giovanni“-Welt zu führen; das Menuett näherte sich dem Beethoven'schen Scherzo, die Pausen unterbrachen – sprich: dramatisierten – den musikalischen Fluss stärker, als man es gewohnt ist, die harten dynamischen Kontraste trieben dem Werk alle (vermeintlich) nette Verbindlichkeit aus.

Die (unbekannte) Solokadenz für die Pauke im langsamen Satz (eine von mehreren ungewohnten Kadenzen für einzelne Orchesterinstrumente) kam mit einer derart apokalyptischen Gewalt herüber, dass das Orchester mit dem Gestus nachhaltiger Einschüchterung fortfahren musste.

Die Sinfonie ist mit Russlands Krieg in der Ukraine leider aktuell

War das alles ein bisschen zu viel des Guten? Man kann das so sehen, indes stellten Roth und das gut disponierte Orchester (auszunehmen ist ein Fehlton der Flöte ausgerechnet in ihrer Kadenz, der leider gut zu hören war) solchermaßen einen Aspekt heraus, der in der Tat Beachtung verdient.

Haydns Sinfonie, 1795 entstanden, ist eine „Sinfonia in tempore belli“, und die Zeitsignatur hat sich nicht nur der „Paukenmesse“ und der „Militär-“, sondern eben auch dieser letzten Londoner Sinfonie eingeschrieben: Damals tobte der Erste Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich mit all seinen Schrecken; der Komponist musste auf der Rückreise von England nach Wien den Umweg über Hamburg und Dresden nehmen, weil im Rheinland mittlerweile die Franzosen saßen.

Das alles mutet, leider, hoch aktuell an: Spätestens seit der Putin'schen Aggression gegen die Ukraine herrscht in Europa wieder einmal Krieg.

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