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Hans Magnus Enzensberger gestorbenDa geht ein unverwechselbarer Ton

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Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger

Hans Magnus Enzensberger prägte als Autor die Literatur der Nachkriegszeit. Nun ist er mit 93 Jahren in München gestorben.

Das ist so ein Satz, der hängen bleibt: „Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht.“ Und er hat es wahrlich in sich: Einerseits erfreut er durch seine forsche Zurückweisung von jeglichem ideologischem Dogmatismus und bekennt sich sozusagen habituell zur Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis. Andererseits räumt er seinem Sprecher jede Lizenz ein, auf kohärente Argumentation generös verzichten zu können. Der Gegner wird solchermaßen leicht zum Hasen zwischen den beiden Igeln. Mit so einem ist schwer umgehen – und noch schwerer ein dauerhaftes Bündnis zu schließen.

Hans Magnus Enzensberger, der am Donnerstag 93-jährig in München gestorben ist, gehört zu diesen habituell unsicheren Kantonisten, auf die der berühmte Brecht-Satz anwendbar ist: „In mir habt ihr einen, auf den ihr nicht bauen könnt.“ Und von den berühmten Genossen seines Geburtsjahres 1929 hat er den weitesten Weg zurückgelegt: Etablierte sich Ralf Dahrendorf schon früh als führender Liberaler, blieb Jürgen Habermas stets dem Projekt einer der Moderne verpflichteten Aufklärung treu, so entwickelte sich Enzensberger vom Scharfrichter bundesdeutscher Nachkriegsbefindlichkeiten (von Habermas stammt seine wunderbare Charakterisierung als „Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre“) zum ebenso harten Kritiker linker Realitätsverfehlung und totalitärer Entgleisung. Und gegen die westdeutsche Untergangslarmoyanz der 80er Jahre setzte er einen heiteren Entwarnungston.

Enzensberger verglich Saddam Hussein mit Hitler

Als er schließlich – anlässlich des ersten Golfkrieges – Saddam Hussein mit Hitler verglich, sahen ihn manche auf dem Weg ins CSU-Lager. Weit gefehlt – Enzensberger war kein Lager-Mann, sondern ein Provokateur mit starker Neigung zu fröhlichem Anarchismus. Sogar dem von der großen Nase beherrschten Gesicht hatte sich das irgendwie eingeschrieben: Ironische Verschmitztheit krönte sich dort mit einer nicht geringen Portion intellektueller Arroganz. Tatsächlich: Das Clowneske, die spielerische Heiterkeit, das ästhetizistische Weltverhältnis, das sich in die Devise „Ja nicht zu ernst nehmen!“ fassen lässt – es war Enzensberger, in dem sich polyglotte Weltbürgerlichkeit, weitläufige Gelehrtheit und oberbayerische Bonhomie vereinten, in hohem Maße eigen.

Hier gilt es auch noch einmal mit einem Mythos aufzuräumen, der ihm bis heute anklebt, tatsächlich aber fortgezeugte Fehlrezeption ist: Enzensberger hat auch in seiner heißesten Phase nie den „Tod der Literatur“ ausgerufen, an deren Stelle die Revolution zu treten habe. Im immer wieder zitierten „Kursbuch 15“ findet sich keine Stelle, auf die man sich einschlägig berufen könnte.

Dem Autor fehlte eine revolutionäre Literatur

Der Autor mokierte sich dort - in den „Gemeinplätzen, die Neueste Literatur betreffend“ – gewohnt ironisch-übertreibend eben über jene Literaten, die das Ende der Literatur feiern. Das Totenglöcklein läutete Enzensberger allenfalls der „bürgerlichen“ Literatur; was fehle, sei eine neue „revolutionäre“ Literatur, die sich den Marktzwängen entziehe.

Wie auch immer: Gesinnungsfeste aller Richtungen hat Enzensberger stets aufs Neue genervt. Gegen den Mainstream zu sein – das war und ist freilich eine Konstante von „hme“, die sogar so unterschiedliche Helden wie den spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti (über ihn schrieb er einen Doku-Roman) und den preußischen General und Hitler-Gegner Kurt von Hammerstein-Equord verbindet, dem er 2007 ein von tiefer Sympathie erfülltes Buch widmete.

Und durch die Jahrzehnte hielt sich der unverwechselbare Enzensberger-Ton. Der Schreiber dieser Zeilen weiß noch, wie ihn zu Gymnasialzeiten frühe Essays über die „Bewusstseinsindustrie“ wie Trompetenstöße aus dem Alltagstrott des Deutschunterrichts weckten. Damals schon war er der Mann der geschliffenen dialektischen Volte, des sicher das Angriffsziel treffenden Witzes.

Liebgewordene Erstarrung

Das verstärkte sich dann womöglich noch. Der Analphabet eine armselige Figur? Ach was, im „Lob des Analphabetismus“ beschrieb Enzensberger ihn als jemanden, der über Konzentrationsfähigkeit, Eigensinn und ein gutes Gedächtnis verfügen muss. Der Kleinbürger – ein verachtenswerter Sozialtyp? Wieso, er ist überaus schätzenswert ob seines unerschöpflichen kreativen Selbsthasses. So ging es dann weiter – wobei die Neigung, die Welt als Paradox zu beschreiben, auch zur Marotte werden konnte.

Die Bücher der zurückliegenden Jahre zeigten zuweilen auch ein (angesichts des Alters nicht weiter verwunderliches) Nachlassen der Lebendigkeit und Originalität, auch eine Erstarrung in liebgewordenen und immer wieder repetierten Denkfiguren.

Großer Einfluss auf die Literatur der Nachkriegszeit

Den größten Einfluss auf die Gegenwartsliteratur übte der mirakulös Vielseitige als Herausgeber der „Anderen Bibliothek“, vor allem aber als Lyriker aus. Seit dem ersten Gedichte-Band, der „Verteidigung der Wölfe“ von 1957, ist er auch hier zu finden, der unverwechselbare Ton, in dem so gegensätzliche Anreger wie Benn und Brecht einander produktiv kreuzen. Mitteilungscharakter des Gedichts – ja. Aber Überwältigung des Kunstcharakters durch eine doktrinäre „Botschaft“ – nein.

Die Fähigkeit, Lyrik als politische zu schreiben, ohne dass man es ihr gleich ansieht, machte Enzensberger zu Recht berühmt – Poeme wie „An alle Fernsprechteilnehmer“ oder „Middle Class Blues“ wanderten schon früh in die Schulbücher. Mit ihnen nicht weniger als mit seinen weitstrahligen Essays wurde er, der neben vielen anderen Auszeichnungen auch, 1985, den Heinrich-Böll-Preis erhielt, zum kompetenten Chronisten und Diagnostiker der Bundesrepublik vor und nach 1989.