Lebendes Internet-MemeJeremy Fragrance: ein Phänomen, das niemand versteht

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Jeremy Fragrance lacht in die Kamera.

Jeremy Fragrance (Archivbild)

Seine bizarren Clips werden tausendfach geteilt – und brachten ihm zuletzt sogar eine Teilnahme bei „Promi Big Brother“ ein. Jeremy Fragrance, ein Parfüm-Influencer aus Oldenburg: Wer ist dieser Mann? Und meint er das wirklich ernst?

Eigentlich ist Jeremy Fragrance ein ganz normaler Influencer, der ganz normale Influencer-Dinge tut. Er steht oberkörperfrei vor der Kamera, isst komische Sachen, manchmal mit Proteinpulver zusammengerührt. Er teilt fragwürdiges Halbwissen über Lebensmittel und das Leben an sich. Und er hat dieses typische Influencer-Mindset: Jeder kann alles schaffen, sofern man sich nur bis zum Exzess selbst optimiert. Man kennt das zur Genüge aus der Branche.

Auf den zweiten Blick ist Jeremy Fragrance aber doch etwas ganz Besonderes. Er schweift mitten in Tutorialvideos völlig ab, brüllt unverhofft in die Kamera, joggt halb nackt durch Innenstädte, macht zu den unpassendsten Gelegenheiten einarmige Liegestütze, isst vor laufender Kamera ein Ei mit Schale. Ganz nebenbei schnüffelt der 33-Jährige rund um die Uhr an anderen Menschen – denn auch sein Markenzeichen ist etwas Besonderes: Fragrance ist der wohl einzige bekannte Parfüm-Influencer dieses Landes.

Das, was Fragrance bei Tiktok und auf Youtube veranstaltet, ist so absurd und bizarr, dass der 33-Jährige inzwischen ein lebendes Meme geworden ist. Fragrance ist allem Anschein nach völlig durchgeknallt, eine Kunstfigur, und trotzdem wirkt er auf sein Publikum ungewohnt „real“. In den sozialen Netzwerken teilen sich seine herrlich skurrilen Clips tausendfach. Und gerade wegen dieser Skurrilität landete Fragrance zuletzt in zahlreichen Talkshows und sogar im Container der Reality-Show „Promi Big Brother“ – nur, um dann freiwillig das Haus wieder zu verlassen.

Eine Frage jedoch blieb bislang unbeantwortet: Was soll das alles? Und meint dieser Mann das wirklich ernst?

Jeremy Fragrance: schwierige Kindheit und häusliche Gewalt

Eines jedenfalls ist klar: Fragrance war offenbar nicht immer so. Der heute 33-Jährige wächst unter seinem bürgerlichen Namen Daniel Schütz im beschaulichen Oldenburg auf. Seine Eltern sind polnische Einwanderer, seine Kindheit verläuft vergleichsweise „normal“, wie Fragrance immer wieder in Interviews betont. Hakt man etwas genauer nach, zeigt sich jedoch ein anderes Bild.

In einem Interview mit der NDR-Talkshow „Deep und Deutlich“ sagt Fragrance, er habe in seiner Kindheit häusliche Gewalt erlebt. Dem Youtube-Interviewformat von Leeroy Matata berichtet er, die Gewalt sei von seinem inzwischen verstorbenen Vater ausgegangen und habe vor allem seinen Bruder getroffen. Die Mutter des heutigen Influencers sei irgendwann aus- und mit den Kindern in eine dem Vater unbekannte Straße gezogen.

Fragrance selbst verarbeitet die Kindheit mit seinem Hobby. In der Schule beginnt er zu tanzen – das wiederum bringt ihn später zum Oldenburgischen Staatstheater. Hier spielt er erste Rollen auf der Bühne und produziert nebenbei Videotutorials zum Thema Tanzen. Das Talent des jungen Oldenburgers, vielleicht aber auch sein Sixpack und die blonde Justin-Bieber-Frisur, ebnen Fragrance in den 2000er-Jahren den Weg zum Popstar – na ja, fast zumindest.

Jeremys Boyband-Flop

Fragrance ist Mitglied der Gruppe Part Six, die 2006 mithilfe der inzwischen eingestellten Jugendzeitschrift „Yam!“ zusammengecastet wird. Fragrance stößt erst später zur Gruppe hinzu, singt furchtbar schnulzige Plastik-Pop-Songs mit mittelmäßig geschriebenen Texten zu mittelmäßigen Tanzchoreografien. Sein Künstlernamen damals: Jeremy Williams. Wirklich erfolgreich ist die Gruppe nicht. Schon ein Jahr nach der Gründung trennt sich die Plattenfirma EMI von der Band, 2011 löst sich die Gruppe nach einem Comebackversuch endgültig auf.

Später versucht es Fragrance noch mal mit einem anderen Musikprojekt. Als Teil der Gruppe Golden Circle schwimmt der heute 33-Jährige auf der EDM-Welle der 2010er-Jahre. Sein Song „Ibiza Forever“ klingt sowohl musikalisch als auch textlich wie ein Abklatsch von DJ Antoines „Welcome to St. Tropez“ – und floppt. Auch die Solokarriere des jungen Sängers als Jeremy Williams ist nur mittelmäßig erfolgreich: Fragrances Song „All of Me“ klingt wie ein Taio-Cruz-Hit der frühen 2010er-Jahre – nur leider eben ohne Taio Cruz.

Vom durchgeknallten „Parfümfluencer“, wie man Fragrance heute kennt, ist zu dieser Zeit wenig zu sehen. Fragrance macht Dinge, die Boyband-Sänger eben so tun: Singen, tanzen und gut aussehen, möglichst wenig kontroverse Dinge sagen. Nebenbei modelt Fragrance – etwa für eine neue Kollektion von Thomas Rath, bekannt als Juror aus „Germany‘s Next Topmodel“. In einem Interview mit einem Youtube-Format antwortet Fragrance auf die Frage, wie es dazu kam: „Keine Ahnung, weil ich gut aussehe.“

Millionengewinne mit Düften

Der Erfolg, der musikalisch ausbleibt, gelingt Fragrance später als Influencer. Auf Youtube beginnt er, Parfüms verschiedener Marken vorzustellen und zu bewerten. Das geht zunächst hochgradig seriös vonstatten. Fragrance bewertet die Produkte nach vorgegebenen Kategorien – etwa dem Preis oder wie der Duft bei den „Ladys“ ankommt. Dafür macht er sogar Tests in Diskotheken, wo er verschiedene Frauen in verschiedenen Ländern an verschiedenen Düften riechen lässt.

Der Clou: Jeremy Fragrances Parfümtests sind bilingual. Er hat einen deutschen Youtube-Kanal – weitaus erfolgreicher jedoch ist der Influencer mit der englischsprachigen Variante. Fragrance lebt zeitweise in Los Angeles, Miami und London, er beherrscht die Sprache perfekt. Die Idee für den Youtube-Kanal kommt ihm in einer Filiale der Modemarke Abercrombie & Fitch. Bis zu sechs Millionen Mal werden die Clips angeklickt, Zuschauerinnen und Zuschauer verehrten den „Parfümfluencer“ in den Kommentarspalten. Insbesondere auch für Männer ist Fragrance ein Vorbild im Kosmetikbereich – ernst zu nehmende männliche Youtuber dieser Branche gibt es nur wenige.

Später bringt Fragrance auch seine eigene Parfümkollektion auf den Markt. Mit einer Crowdfunding-Kampagne auf Kickstarter sammelt er von Fans fast 800.000 Euro ein – der Zielbetrag lag eigentlich bei 25.000 Euro. Bei „Fragrance One“ gibt es heute „Office“-Düfte für Männer für 39 Euro und Datingdürfte für 199 Euro. Auch für Frauen hat Fragrance Parfüms im Sortiment. Ein Unisexduft für alle Geschlechter kostet 159 Euro. Fragrance selbst sagt heute, mit jedem Video, das er veröffentliche, verdiene er mehrere Zehntausend Euro. Kundinnen und Kunden würden durch die Clips auf seine Düfte aufmerksam und bestellten schließlich.

Die bizarre Tiktok-Welt des Jeremy Fragrance

Irgendwann in dieser Zeit, zwischen dem Start der Influencer-Karriere und heute, muss allerdings etwas passiert sein. Mit der Zeit werden die Videos des „Parfümfluencers“ immer lauter, immer schriller, immer bizarrer. Befeuert wird das insbesondere durch die Plattform Tiktok. Hier springt Fragrance oberkörperfrei durch die Wohnung und schreit „Power“, fährt halb nackt mit dem Fahrrad durch die Stadt oder joggt, tanzt wild auf der Terrasse – und liefert immer absurdere Parfümreviews. In einem etwa vergleicht Fragrance das Paco-Rabanne-Parfüm „One Million“ mit dem Duft von Nutella. Das Parfüm gewinnt.

In anderen Videos schnüffelt Fragrance völlig berauscht an allen möglichen Dingen, etwa Büschen und Sträuchern am Straßenrand oder Lebensmitteln. Das tut Fragrance selbst dann, wenn er mit Firmen zusammenarbeitet. In einem aktuellen Werbepost für den Pay-TV-Anbieter Sky riecht er an einem Receiver.

Ein wiederkehrendes Element auf Fragrances Tiktok-Kanal: Wenn Zuschauerinnen und Zuschauer ein Foto mit dem Influencer machen wollen, filmt er sie auch. Jedes einzelne dieser Videos landet auf seinem Tiktok-Kanal. Einmal klingelt der Influencer an Haustüren und drückt wildfremden Menschen sein Handy in die Hand, damit sie ihn filmen – dann lässt er sie völlig ratlos zurück. Mit der Zeit wandelt sich auch der Modestil des Influencers: In jedem einzelnen Video trägt er inzwischen einen schneeweißen Anzug. Sechs Millionen Menschen folgen dem 33-Jährigen inzwischen auf der Plattform, auf Youtube sind es etwa zwei Millionen.

Traumaverarbeitung während Parfümreviews

Zwischendurch verarbeitet Fragrance in seinen Videos – häufig völlig unerwartet – frühere Traumata. Mitten in Parfümtutorials schweift der Influencer plötzlich völlig ab und redet über Gott und die Welt. In einem Video schreit er in die Kamera: „Ich hatte eine Frau, die versucht hat, mich wegen Vergewaltigung zu verklagen, mein Vater ist gestorben, ein Typ hat mich finanziell völlig ruiniert.“ Zudem habe er schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht, die ihn gezwungen hätten, Dinge zu tun, die Fragrance nicht näher benennt.

Besonders häufig verbreitet sich ein Parfümtest der Marke Perry Ellis 360 Red. Die Flasche des Duftes erinnert Fragrance offenbar an ein Sexspielzeug. Urplötzlich schweift der 33-Jährige völlig ab und spricht über Masturbation – der Clip wird tausendfach in den sozialen Netzwerken geteilt.

Lieblingsessen: Wachteleier

Immer wieder spricht Fragrance auch über seine ungewöhnlichen Essgewohnheiten. Habaneros, Wachteleier mit Schale und ein Glas Gemüsebrühe – so sieht angeblich das tagtägliche Frühstück des Influencers aus.

Er esse aber auch Magerquark mit Proteinpulver, „Organe von Hühnern“ und Fisch. In einem Kochformat des Youtubers Max bereitet Fragrance einen wirren Mix aus Salat, Kapern, Omelette aus Wachteleiern, Habaneros und Artischocken zu, die er mit einer Riesenladung Pizzagewürz überschüttet. Dazu gibt es Gemüsebrühe aus dem Bierglas. „Detox für den Körper“ nennt Fragrance das. Sein Interviewpartner scheint wenig begeistert – und sucht später die Toilette auf.

Helfen soll das angeblich, um die eigene Gesundheit und sich selbst zu optimieren. Dafür hat Fragrance noch ein paar weitere Tipps auf Lager. Er steht – laut eigener Aussage – morgens um 4.30 Uhr auf, duscht eiskalt, macht beim Zähneputzen Kniebeugen, geht die Treppe rückwärts hoch. Helfen soll das angeblich gegen Alzheimer.

Jeremys Sprung ins Fernsehen

Wegen seiner Skurrilität hat Fragrance inzwischen immer regelmäßigere Auftritte im Fernsehen und in Internetshows. Er ist zu Gast bei „Late Night Berlin“ von Klaas Heufer-Umlauf, macht vor laufender Kamera 20 einarmige Liegestütze, packt mitten in der Show das Handy aus und filmt sich selbst. In der funk-Show „World Wide Wohnzimmer“ erklärt der Influencer, er habe eine Teilnahme am „Perfekten Promi-Dinner“ abgelehnt, weil er das Essen der anderen nicht essen wollte.

Auch bei „Promi Big Brother“ bleibt Fragrance seiner Linie treu. Acht Tage lang isst er nichts, ernährt sich ausschließlich von Wasser. An der Show nehme er nur teil, damit er „noch bekannter“ werde. Als die Produzenten die Kandidatinnen und Kandidaten dazu drängen, in Neunzigerjahreklamotten zu schlüpfen, bleibt Fragrance hartnäckig. Sein weißer Anzug sei sein Markenzeichen, und der „bleibt – Punkt“. Die Reality-erprobten Mitinsassen, die sonst wirklich alles mitmachen, was ihnen die Produktionsfirmen des Privatfernsehens sagen, zeigen sich völlig perplex.

Auch bei „Promi Big Brother“ wunderten sich Mitkandidaten und Zuschauende gleichermaßen, was mit diesem Typen eigentlich los ist. Im Netz verbreiten sich Theorien, Fragrance stehe dauerhaft unter Drogen – der Influencer selbst verneint das immer wieder: Er habe in seinem ganzen Leben noch nie Drogen genommen, sagte er dem Format „World Wide Wohnzimmer“. Andere wiederum vermuten hinter Fragrances Verhalten psychische Probleme.

Ein gutes Geschäftsmodell

Fragrance selbst allerdings liefert eine deutlich einfachere Antwort. Er habe irgendwann gemerkt, dass reine Parfümtutorials kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlockten. Die Leute vor den Smartphones und Fernsehgeräten seien gelangweilt – „flat“, wie er sagt. Er liefere ihnen die nötige „Energie“, sagt Fragrance bei „Late Night Berlin“. Dadurch erreiche er auch Menschen, die sich eigentlich gar nicht für Parfüm interessierten.

In einem Tiktok-Video nimmt Fragrance eine Gurke in die Hand, riecht daran und fängt an zu singen. „Wisst ihr Leute, ich mache diese Videos, weil sie Klicks bringen. Darum mache ich manchmal solche Dinge.“ Bei Leeroy Matata nennt Fragrance seine hochgradig bizarren Videos „Koks-Style“ – sie seien pure Absicht.

Bei „Deep und Deutlich“ sagt Fragrance: „Ich ernähre meine ganze Familie, indem ich Rumhampel wie ein Vollidiot. Es ist einfach so, dass ich damit total viel Kohle verdiene.“ Gleichzeitig arbeite er hinter den Kulissen aber hochseriös – das gelänge vielen anderen Influencern nicht. Er springe zwar „wie ein Kokssüchtiger vor der Kamera“ herum – nebenbei habe er aber auch fünf Firmen mit 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Und damit wird auch klar, was das alles soll. Vielleicht ist Jeremy Fragrance wirklich ein bisschen durchgeknallt. Vor allem ist der Influencer aber ein cleverer Geschäftsmann. Und seine herrlich bizarren Videos sind vor allem eines: pure Berechnung.

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